Torsten Hilscher: Krankenmord auf Befehl
Vor 70 Jahren begann in Brandenburg/Havel die systematische Tötung von Menschen im NS-Regime
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Berlin/Brandenburg/Havel - Es war der Beginn der systematischen Ermordung von Menschen im Nationalsozialismus. In einer unscheinbaren Scheune der Altstadt von Brandenburg an der Havel wurden ab Februar 1940 Woche für Woche Hunderte Kranke zusammengedrängt. Über ihnen hingen Duschköpfe. Statt Wasser drang jedoch Kohlenmonoxid in die verriegelte Kammer. Brandenburg war vor 70 Jahren neben dem baden-württembergischen Grafeneck einer der beiden ersten Orte in Deutschland, an denen Menschen von den Nationalsozialisten vergast wurden.
Geplant wurden die Aktionen in Berlin. Unter der Adresse Tiergartenstraße 4 (T4) koordinierten NS-Bürokraten in einer eigens geschaffenen Zentrale das euphemistisch als Euthanasie bezeichnete Programm, bei dem „lebensunwertes Leben“ vernichtet wurde. “Schon 1935 besprach sich Hitler dazu auf dem Reichsparteitag mit führenden Ärzten„, sagt die Medizinhistorikerin Astrid Ley. Opfer der nach dem Zweiten Weltkrieg als Aktion T4 bezeichneten Morde waren Behinderte und psychisch Kranke.
Der nationalsozialistischen Pläne seien von Anbeginn auf Massenmord ausgelegt gewesen, erläutert Ley, die zugleich Leiterin der T4-Gedenkstätte in Brandenburg/Havel ist. „Man kalkulierte 70 000 bis 100 000 Opfer ein. Es sollte wie eine ärztliche Maßnahme wirken.“ Darum hätten sich die Ärzte mit großer Energie der Suche nach einer Tötungsmethode gewidmet.
Da die Ermordung per Giftspritze nicht geeignet gewesen war, fiel die Wahl auf reines Kohlenmonoxid. Das unsichtbare Gift wirkt schnell, die Täter kommen mit ihren Opfer nicht direkt in Berührung.
Dass eine der ersten Gaskammern in der Stadt Brandenburg eingerichtet wurde, hing mit den dortigen Bedingungen zusammen. Das Alte Zuchthaus befand sich in Staatsbesitz und stand außerdem leer, umgeben von hohen Mauern.
Tests erfolgten im Dezember 1939 oder im Januar 1940 - darüber fehlt noch Klarheit. „Fakt ist: Das Gas wurde aus Flaschen zunächst über den Fußboden eingeleitet, später erfolgte die Installation von Duschköpfen“, erläutert Ley. „Anfangs wurde die Kammer noch als Inhalationsraum getarnt und den Kranken das tiefe Einatmen empfohlen.“ Als Tatort fungierte die alte Scheune, in die die Kammer mit einem Fassungsvermögen von 30 Personen gemauert worden war.
Auch administrativ hatten sich die Beteiligten abgesichert. Jeder Mord konnte mit einem Führerbefehl begründet werden, den Adolf Hitler im Oktober 1939 ausgegeben und auf den 1. September zurückdatiert hatte. Tatsächlich wurden in Nachkriegsprozessen gegen die Täter alle Freisprüche mit Befehlsnotstand begründet.
Die Gaskammer von Brandenburg wurde noch bis Oktober 1940 genutzt. Bis dahin starben mehr als 9000 Menschen, darunter 4000 Berliner und 400 jüdische Psychiatriepatienten aus dem gesamten Reich, die ab Juli 1940 gezielt als Gruppe vergast wurden. Anderswo gingen die Krankenmorde bis August 1941 weiter, bevor Proteste von Kirchen und misstrauischen Angehörigen Hitler zum Stopp des T4-Programms zwangen.
Allerdings nur zum offiziellen Stopp: „Ab da begann das sogenannte wilde Töten an vielen Anstalten, dem mutmaßlich noch mehr als die insgesamt 70 000 T4-Toten zum Opfer fielen“, sagt Ley. Mord per Kohlenmonoxid wurde nun in den KZ von Sobibor und Treblinka weitergeführt.
An das Schicksal der Menschen wird heute in Brandenburg/Havel mehrfach erinnert. Neben einer Gedenkplatte an der Mauer des ehemaligen Zuchthauses aus DDR-Zeiten mahnen Eisenstelen am Rande des Nikolaiplatzes. Die Kammer selbst existiert nicht mehr. Dafür soll es ab 2011 eine Dauerausstellung am Originalschauplatz geben. Die Mittel sind laut Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten bewilligt, darüber hinaus übernahm die Stiftung von der Stadt Brandenburg ein Gebäude in Erbpacht. Die Bauplanung hat Ley zufolge begonnen. “Ein Schwerpunkt der Ausstellung wird die pädagogische Arbeit sein, die sich gerade an Schüler von medizinischen Berufen richtet. Und für Lernbehinderte wird es spezielles pädagogisches Programm geben.“
Interner: www.stiftung-bg.de7
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