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Brandenburg: Mehr Hilfe für Helfer Mutter hat heute Termin im Jugendamt Geschwister leben zusammen in Heim

Jahrelang kürzten Senat und Bezirke bei Familienbetreuung und Jugendämtern Nach dem jüngsten Fall fordern Berliner Politiker: Damit soll jetzt Schluss sein

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Die Schmerzgrenze ist erreicht. Darin sind sich in Berlin die Experten von Opposition und Regierung einig, und das betonten sie am Sonntag angesichts des aktuellen Falls der vier vernachlässigten Kinder. Quer durch die Parteien ist zu hören: Bei Familien mit Erziehungsproblemen kann und darf nicht weiter gespart werden.

So wurde bei den Hilfen zur Erziehung in den vergangenen fünf Jahren rund ein Drittel der Ausgaben gestrichen, rechnet Karlheinz Nolte vor, Haushalts- und Jugendexperte des SPD im Berliner Abgeordnetenhaus: Waren im Jahr 2002 noch 450 Millionen im Landeshaushalt für Hilfen zur Erziehung veranschlagt – von der Heimunterbringung bis zur ambulanten Betreuung –, sind heute dafür noch 290 Millionen Euro vorgesehen. „Bei der Hilfe für Familien und Kinder darf nicht weiter gespart werden, sondern die Mittel müssen aufgestockt werden“, folgert der SPD-Innenpolitiker Thomas Kleineidam. Und die SPD-Jugendpolitikerin Sandra Scheeres sagt: „Die Grenze ist erreicht.“

Die Opposition fordert dies schon länger und machte dem Senat angesichts des aktuellen Falls Vorwürfe. „Die Jugendhilfe in den Bezirken blutet unter Rot-Rot aus“, kritisierte CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger. Zwar hätten bedürftige Familien einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung. Die von der Landesregierung vorgegebenen Sparzwänge führten jedoch dazu, dass ambulante Hilfen in weniger dringend erscheinenden Fällen oft nicht bewilligt würden, sagt der CDU-Familienpolitiker Sascha Steuer. Verschärft wird die Situation durch die Personalsituation der Jugendämter. Seit Jahren werden so gut wie keine neuen Mitarbeiter von außen mehr eingestellt, kritisiert Steuer. Die Folgen fasst Grünen-Jugendpolitikerin Ramona Pop so zusammen: „Die Ämter schieben schwierige Fälle vor sich her und können mangels Geld und Personal oft keine adäquate Hilfe anbieten.“ Eine Anfrage der Grünen aus dem vergangenen Jahr ergab, dass in Berlins Jugendämtern binnen zwei Jahren fast jede zehnte von insgesamt 3250 Stellen gestrichen wurde. Die Folgen beschreibt ein Sozialarbeiter in einem Text für den Verein CareChild: Im Durchschnitt betreue in seinem Jugendamt jeder Sozialarbeiter laufend etwa 70 Familien. „Nach Abzug von Urlaub, Krankheit und nicht klientenbezogener Arbeit bleiben im Durchschnitt pro Woche pro Familie für Gespräche plus Aktenführung 24 Minuten; im Jahr 1999 waren es noch 30 Minuten.“ Das bestätigt der Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann, in dessen Wahlkreis in Prenzlauer Berg die jetzt bekannt gewordene Familie lebt.

Für den nächsten Landeshaushalt, der nach der Sommerpause verhandelt wird, wollen sich Oppositionspolitiker und auch Vertreter der Regierungsparteien dafür einsetzen, die Hilfen zur Erziehung aufzustocken und dem wirklichen Bedarf anzupassen. Zuletzt war es so, dass die Bezirke um die 25 Millionen Euro mehr dafür ausgaben, als es der Haushalt vorsah, rechnet SPD-Mann Nolte vor. Das wurde den Bezirken zu drei Vierteln vom Land erstattet. Im nächsten Haushalt 2008/9 sollen jetzt die wirklichen Ausgaben veranschlagt werden, also rund 315 Millionen Euro. Zurück zur Ausgabenhöhe von vor fünf Jahren will die Koalition aber nicht, da damals überproportional viele Kinder in teuren Heimen untergebracht wurden, statt ihnen mit Pflegefamilien oder ambulanten Angeboten zu helfen, sagt Nolte. Deswegen ist für den Sozialdemokraten eine zentrale Frage: Wird das vorhandene Geld richtig eingesetzt? Der aktuelle Fall der vier vernachlässigten Kinder zumindest ist für Nolte mit der Sparpolitik nicht zu erklären: „Die Familie wurde ja betreut.“

Berlin – Die Berliner Polizei ermittelt weiter gegen die Mutter, die ihre vier Kinder seit Sommer 2006 sich selbst überlassen hatte. Der 46-Jährigen werde die Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht vorgeworfen, sagte ein Polizeisprecher am Wochenende in Berlin. Heute hat die Frau zudem einen Termin beim Jugendamt des Bezirks Pankow. Bei dem Termin gehe es darum, ob die Mutter kooperationsbereit sei und die Situation im Interesse der Kinder ändern wolle, sagte die Pankower Jugendstadträtin Christine Keil (Linkspartei.PDS). Vor einem knappen Jahr war die Frau zu ihrem Freund gezogen und hatte ihre beiden Mädchen und zwei Jungen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren nur manchmal kurz aufgesucht.

Die Geschwister wurden nicht getrennt, wie sie immer befürchtet hatten, sondern leben jetzt vorläufig gemeinsam in einem Heim, wie die Leiterin des Fachkommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen, Gina Graichen, im RBB-Inforadio sagte. Es müsse nun entschieden werden, ob an den Sorgerechten etwas geändert werde und ein Teil möglicherweise auf das Jugendamt übergehe. Graichen sagte, dass die Mutter am Telefon einen „ganz normalen Eindruck“ gemacht habe. Sie fürchte, dass der Frau „nicht so richtig“ bewusst sei, was sie getan habe.

Am Freitag war bekannt geworden, dass die Kinder seit Sommer vergangenen Jahres allein in einer Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg gelebt hatten. Der älteste Junge hatte sich einer Mitarbeiterin des Jugendamts offenbart, weil er sich von der Situation überfordert fühlte. Daraufhin suchten Polizeibeamte und Sozialarbeiter die Wohnung auf, die sie in einem katastrophalen Zustand vorfanden.

Die Frau arbeitete selbst früher als Kindergärtnerin im brandenburgischen Oranienburg, wie die Zeitung „Bild am Sonntag“ berichtete. Der Vater der Kinder stammt dem Bericht zufolge aus Mosambik. Er habe die Frau kurz nach der Geburt des jüngsten Kindes verlassen, sagte die Großmutter der Kinder dem Blatt.

Den Kindern gehe es jetzt besser, berichtete Graichen und fügte hinzu: „Sie hatten großen Hunger“. Der älteste Junge, der sich so lange bemüht habe, nach außen hin alles in Ordnung scheinen zu lassen, werde jetzt „total entlastet“ sein. Ein Schulkamerad sagte dem „Berliner Kurier am Sonntag: „Wenn wir nach der Schule spielen wollten“, sei der Zwölfjährige nie mitgekommen. Er habe immer auf seine jüngeren Geschwister gewartet und sei dann mit ihnen nach Hause gegangen.

Im Jahr 2005 registrierte die Polizei in Berlin 314 Fälle von Kindesverwahrlosung. Im Jahr 2006 waren es 582. ddp

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