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Gastbeitrag: Moralisch nicht zu unterbieten

Würde die These der brandenburgischen CDU-Politikerin Saskia Ludwig von zu DDR-Zeiten auf SED-Geeheiß getöteten Frühchen stimmen, müssten ganze OP-Teams mitgemacht haben. Die These ist unverantwortbar, meinen die Chefärzte der Kinder- und der Geburtsstation im Potsdamer Bergmnann Klinikum, Prof. Dr. Michael Radke und Dr. Bernd Köhler.

Stand:

Am 27.6.13 meldeten die Potsdamer Neuesten Nachrichten: „Saskia Ludwig: Kindstötungen in DDR aufklären“. Anlass war die Kleine Anfrage Nr. 2893 vom 17.05.2013 der CDU-Landtagsabgeordneten Dr. Saskia Ludwig. Die Anfrage zeugt von einer erstaunlichen Unkenntnis von Abläufen in Geburts- und Kinderabteilungen und von WHO-Standards und -Konventionen. Schwer wiegt aber folgende Mutmaßung (Zitat): „Nicht wenige Frühgeborene, die weniger als 1000 Gramm wogen, sind nach Medienberichten in Frauenkliniken zu Zeiten der SED-Diktatur getötet worden. Sobald entbunden war, wurden die Säuglinge abgenabelt und noch vor ihrem ersten Schrei z.B. in Wassereimern im Kreissaal ertränkt.“

Jeder vernünftige Mensch ringt nach Fassung, wenn er so etwas liest!

Es ist davon auszugehen, dass Frau Ludwig bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet hat. Das müsste sie, denn es geht schlicht um gemeinschaftlich begangenen Mord an zu früh geborenen Kindern und zwar nach diesem – der Mutmaßung folgenden – Szenario: Demnach müsste eine schwangere Frau mit drohender Fehlgeburt und eventuell lebendem Kind in Narkose versetzt worden sein (wie in der Anfrage formuliert). In den Fällen, in denen keine spontane Geburt stattfand, öffneten drei Ärzte den Bauch und die Gebärmutter der Schwangeren. Je eine Hebamme, Anästhesie- und OP-Schwester assistierten, ein Anästhesist, ein Kinderarzt und eine Kinderkrankenschwester sind unmittelbar beteiligt. Eine der genannten Personen würde das Frühgeborene entgegennehmen, die Nabelschnur durchtrennen und das Kind anschließend im bereitstehenden Wassereimer ertränken

In kleineren Geburtsabteilungen ist der Kreis der Beteiligten gewöhnlich kleiner gewesen - aber auch hier hätten 3 bis 4 beteiligte Personen (Ärzte, Schwestern, Hebammen) auf Befehl der SED-Diktatur ein frühgeborenes Kind nach o.g. Procedere töten müssen.

Das sind die einzig möglichen Interpretationen der geäußerten Mutmaßung.

Folgendes ist dazu festzustellen:

1. Nach Einführung des Gesetzes zum „Schutze von Mutter und Kind“ in der DDR im Jahr 1952 war es gesetzlich geregelt, dass jeder verstorbene Säugling vor der Kommission zur Senkung der Säuglingssterblichkeit der Kreise und übergeordnet auch der Bezirke verhandelt wurde. Nach der Wende wurden solche Akten in den Staatsarchiven gesichert, sie sind auch heute noch zugänglich.

2. Gesetzlich geregelt war auch, dass jedes tot geborene (WHO-Klassifikation) oder verstorbene Kind – unabhängig vom Alter – zwingend von Pathologen obduziert werden musste. Bei im Wassereimer ertränkten Kindern wäre durch den Pathologen eingeatmetes Wasser in den Lungen der getöteten Kinder nachweisbar gewesen.

3. Die Kindergesundheit und insbesondere die Säuglingssterblichkeit waren Mittel zum Zweck im politischen Wettbewerb mit der „kapitalistischen BRD“. Die politisch gefärbte Interpretation der Medizinalstatistik in der ehemaligen DDR ist denkbar. Von der SED-Diktatur verordnete Tötungen von Kindern zur „Glättung“ der Statistik sind demgegenüber undenkbar. Eine Reflexion auf heutige Umstände der „kreativen Nutzung“ der Medizinalstatistik zeigt: Immer häufiger werden von der Presse „statistische Tricks“ in einigen Bereichen der „Gesundheitswirtschaft“ der Bundesrepublik angeprangert. Sie dienen heute der Erlössteigerung und Gewinnmaximierung.

4. Professor Dr. L. Pelz, nach der Wende 1989 Direktor der Universitäts-Kinderklinik Rostock und Ende der 90er-Jahre Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, betont: „Ich kenne keinen Neonatologen (speziell ausgebildeter Kinderarzt für Frühgeborenenmedizin, d.A.) und kann mir auch keinen vorstellen, der nicht in jedem Falle unabhängig von Tragzeit, Gewicht und Lebenszeichen eine Re-Animation (Wiederbelebung, d.A.) des Neugeborenen versuchen würde bzw. versucht hätte. Wenn diese dann fehlschlägt, liegt das am aktuellen individuellen Zustand des Neugeborenen. Die Reaktions- und Anpassungsfähigkeit eines Nasciturus (Neugeborenen, d.A.) ist eine werdende Funktion, die auch bei sachgerechtem ärztlichen Handeln nicht zwangsweise zum gewünschten Erfolg des ,Überlebens’ führen muss.“ Nahezu wortgleich äußern sich ehemalige und aktive Neonatologen u.a. aus Berlin (Prof. Dr. Wauer, ehemals Charité), Cottbus (Priv.-Doz. Dr. Erler), Leipzig (Frau Prof. Dr. Robel-Tillig) und Rostock (Prof. Dr. Plath).

5. Solange die Wirtschaft in der ehemaligen DDR die nötigen Westdevisen beschaffen konnte, d.h. bis etwa zum Beginn der 80er-Jahre, nahm die Frühgeborenenmedizin, zusammen mit Schweden, Finnland, den Niederlanden und der Schweiz, eine weltweite Spitzenposition ein. Professor Dr. Chr. Plath, ehemaliger Leiter der Abteilung Neonatologie an der Univ.-Kinderklinik Rostock, unterstreicht, dass dies durch Zentralisierung der Geburtsmedizin (Stichwort: Risikoschwangere) und eine funktionierende Strukturqualität der kooperierenden Krankenhäuser erreicht wurde. Zudem sei in den 60er- und 70er-Jahren medizintechnische Spitzenqualität aus dem Westen importiert und z.T. selbst entwickelt worden (Blutgasanalytik, pH-Metrie, Kardiotokografie, maschinelle Beatmung u.a.). Das Klinikum in Potsdam war nach Erinnerung von Prof. Plath immer eng mit dem Neonatologischen Zentrum der Charite verbunden und somit garantiert in diese Entwicklungen eingebunden.

Nein, so etwas tut man nicht! Ganze medizinische Berufsgruppen – Hebammen, Krankenschwestern, Frauenärzte, Kinderärzte und auch Pathologen – pauschal der politisch motivierten Kindstötung zu verdächtigen und damit zu verunglimpfen. Auch noch zu glauben, dass man dieses verwerfliche Handeln hätte „unter der Decke halten“ können – wer hält das je für möglich?

Politisch motivierte Kindstötungen hat es auf deutschem Boden zuletzt im Jahr 1945 durch die Nazis gegeben. Anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) vom 16. bis 19. September 2010 hier in Potsdam gab es eine eindrucksvolle Veranstaltung zum Gedenken an die über 8000 von den Nazis ermordeten „reichsdeutschen“ (nicht jüdischen) Kinder, deren Leben aufgrund unheilbarer Krankheiten als lebensunwert eingestuft wurde. Mehr als 1000 Kongressteilnehmer und Gäste nahmen hieran teil. Von Anfang Januar bis Anfang Februar 2011 wurde mit Unterstützung der Landesregierung Brandenburgs, der Charité Berlin, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und des Klinikums Ernst von Bergmann eine erschütternde Ausstellung im Museum für Brandenburgisch-Preußische Geschichte in Potsdam präsentiert. Frau Dr. Ludwig hätte Gelegenheit gehabt, sich über real vollzogene tausendfache Kindstötungen im Namen deutscher Politik zu entrüsten – sie hat die Gelegenheit verpasst.

Fazit: Die medizinische Versorgung Frühgeborener ist bis in den heutigen Tag hinein weltweit ein ethisch komplexes und mit extremen Emotionen besetztes medizinisches Handlungsgebiet. Auf dem Rücken betroffener und belasteter Mütter und ihrer Familien politische Auseinandersetzungen mit strafrechtlich relevanten – gleichfalls unbewiesenen – Behauptungen zu betreiben, ist verwerflich und moralisch nicht zu unterbieten.

Die Autoren, Mediziner vom Ernst von Bergmann Klinikum Potsdam – Radke ist Chef der Kinderstation, Köhler der Geburtsstation – legen Wert darauf, dass sie sich nicht als Angestellte der Klinik äußern

Prof. Dr. Michael Radke, Dr. Bernd Köhler

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