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Ex-V-Mann Carsten Sz. alias "Piatto" hier auf dem Weg zu seiner Zeugenvernehmung vor dem Münchner Oberlandesgericht im NSU-Prozess.

© Marc Müller / dpa

Brandenburger Geheimdienst in der Defensive: NSU-Skandal: Neue Kritik am Verfassungsschutz

Hätte Brandenburg die NSU-Morde verhindern können? Im Landtag wird ein Untersuchungsausschuss wahrscheinlich. Selbst die Linken, die mitregieren, fordern Aufklärung.

Stand:

Potsdam - Der politische Druck wächst, den NSU-Skandal und die Verwicklungen des Brandenburger Verfassungsschutzes mit einem Untersuchungsausschuss im Landtag aufzuklären.

Bereits vor zwei Wochen hatte ein V-Mann-Führer des Brandenburger Geheimdienstes im Münchner NSU-Prozess für Irritationen gesorgt. Kaugummi kauend trat er in den Zeugenstand und erklärte zu seiner Vorbereitung auf die Aussage, gelegentlich geheime Unterlagen in seinem Behörden-Postfach gefunden zu haben. Wichtiger aber: Die Aussage des V-Mann-Führers bestätigte bisherige Erkenntnisse, wonach die Verfassungsschutzabteilung des Brandenburger Innenministeriums die Mordserie des NSU-Trios hätte verhindern können.

„Bis heute verschleiern Brandenburger Behörden, dass sie damals dem Quellenschutz Vorrang vor der Festnahme der Gesuchten gegeben haben"

Nun legen die Anwälte der NSU-Opfer nach. „Das Innenministerium hat die Festnahme der drei vereitelt und so die spätere Mordserie des NSU ungewollt erst ermöglicht“, sagte Thomas Bliwier von der Hamburger Kanzlei BDK der Tageszeitung „Die Welt“. „Bis heute verschleiern Brandenburger Behörden, dass sie damals dem Quellenschutz Vorrang vor der Festnahme der Gesuchten gegeben haben und die Polizei im Regen stehen ließen.“

Die Kritik trifft einen wunden Punkt: Brandenburgs Innenministerium hat bislang zur Rolle des Verfassungsschutzes kaum etwas Erhellendes beigetragen, die Aufklärung im ersten Untersuchungsausschuss des Bundestages und im NSU-Prozess in München immer wieder torpediert und verschleppt. Im Landtag spielte der NSU auch kaum eine Rolle, lediglich in der geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollkommission.

Die beiden Vize-Landesparteichefs der Linken forderten am Sonntag einen Untersuchungsausschuss im Brandenburger Landtag

Das könnte sich nun ändern. Die CDU drängt auf Aufklärung und droht mit einem Untersuchungsausschuss, auch die Grünen können sich das vorstellen, die Freien Wähler ebenfalls. Einen Untersuchungsausschuss fordert auch die Linkspartei, ein Parteitag beschloss im November 2015, dass es einen NSU-Untersuchungsausschuss geben müsse, alternativ zumindest eine wissenschaftliche Aufarbeitungskommission. Beides scheitert bislang an der seit 1990 regierenden SPD. Die verweist stattdessen auf Brandenburgs Vorreiterrolle beim Kampf gegen Rechtsextremismus und bei der Überprüfung von rechtsextremistischen Mordfällen.Beim NSU aber betreibt die SPD seit Bekanntwerden der Mordserie 2011 Blockade. Die Linke hielt sich aus Koalitionsräson zurück und vermied die Konfrontation. Das ändert sich nun: Die beiden Vize-Landesparteichefs Norbert Müller und Sebastian Walter forderten am Sonntag, auch in Brandenburg müsse nun endlich ein Untersuchungsausschuss her. „Wir werden um eine weitere Aufklärung nicht herumkommen“, sagte Walter. Zumal in sechs Bundesländern Untersuchungsausschüsse eingerichtet wurden und im Bundestag inzwischen der zweite arbeitet.

Der Chemnitzer Neonazi-Anführer Jan W. schickte eine SMS an das Handy von "Piatto"

Zum Hintergrund: Carsten Sz., Deckname „Piatto“, spähte Ende der 1990er- Jahre die Neonazi-Szene in Chemnitz aus, und zwar direkt im Führungszirkel der später verbotenen Gruppe „Blood & Honour“. Die Neonazis versteckten damals die aus Jena abgetauchten späteren NSU-Terroristen, die von 2000 bis 2006 neun rassistisch motivierte Morde an türkischen und griechischen Gewerbetreibenden verübt haben sollen. 1998 berichtete „Piatto“ seinem V-Mann-Führer davon, dass die Chemnitzer Neonazi-Szene Waffen für die drei Neonazis aus Jena beschaffen wollte, um die Flucht nach Südafrika zu finanzieren. „Piatto“ hatte vom brandenburgischen Verfassungsschutz auch ein Handy erhalten. Auf diese Nummer hat der Chemnitzer Neonazi-Anführer Jan W. damals eine SMS geschickt: „Was ist mit dem Bums?“ Damit waren offenbar Waffen gemeint. Ausgewertet wurde das Handy nie. Abgefangen hatte die SMS das Thüringer LKA, als der Chemnitzer Neonazi-Anführer sie an „Piatto“ abschickte. Am selben Tag tauschte der Verfassungsschutz „Piattos“ Handy aus.

Fest steht: Das waren 1998 einige der wenigen Hinweise bundesweit auf den NSU. Das Trio wurde von der Thüringer Polizei per Haftbefehl gesucht. Der Verfassungsschutz Brandenburg leitete die Informationen von „Piatto“ zwar weiter, verweigerte den Ermittlern in Thüringer aber Auskünfte zum Einsatzort des V-Mannes und zum Umfeld. Die Begründung: Quellenschutz. „Piatto“ sollte Informationen zu „Blood & Honour“ liefern.

Haben staatliche Stellen die Morde des NSU erst möglich gemacht?

Was dann kam, ist bekannt: Der erste von mindestens zehn Morden, die der NSU begangen haben soll, geschah am 9. September 2000 in Nürnberg.

Nebenklageanwalt Bliwier will nächste Woche neue Beweisanträge im NSU-Prozess stellen. „Das Brandenburger Innenministerium muss jetzt für volle Aufklärung sorgen“, sagte Bliwier der „Welt“ Weitere Beamte sollen als Zeugen vorgeladen werden. „Die Hinterbliebenen haben das Recht zu erfahren, ob staatliche Stellen die Morde des NSU durch ihr Verhalten erst möglich gemacht haben.“

Ob Brandenburg sich in dieser Frage weiter so bedeckt halten kann? Nein – findet auch eine wachsende Mehrheit im Landtag.

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