Brandenburg: Patriotismus in Bronze
Vor 100 Jahren wurde am Reichstag die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ angeschraubt. Der Kaiser hatte das lange verhindert
Stand:
So stellt man sich die Berufskleidung des deutschen Arbeiters vor 100 Jahren eigentlich nicht vor: Weißer Hemdkragen, Krawatte und statt der proletarischen Schiebermütze ein Hut, dessen Form der klassischen Melone in ihrer feinen englischen Art sehr nahekommt. Die Herren, die in den Tagen vor dem Weihnachtsfest 1916 auf einem Gerüst über dem Westportal des Reichstagsgebäudes ihrer Arbeit nachgingen, hatten sich offensichtlich fein gemacht. Schließlich war ein Auftrag von nationaler Bedeutung zu erfüllen, was schon aus den 17 Bronzebuchstaben, die sie auf dem Architrav unter dem Giebel montierten, hervorging: „Dem Deutschen Volke“. Über 20 Jahre lag die Einweihung des Gebäudes zurück, und die Diskussion darüber, was auf dem schmalen Streifen am besten zu stehen habe, war gelegentlich kurz aufgeflammt, doch ohne Ergebnis geblieben.
Immerhin hatte sich nun doch die ursprüngliche, wohl vom Architekten des Reichstags Paul Wallot vorgeschlagene Widmung durchgesetzt. Sie war bereits 1893 auf einer Zeichnung in einigen Fachzeitschriften zu sehen, fehlte aber bei Eröffnung des Baus am 5. Dezember 1894. Darüber spöttelte die sozialdemokratische Zeitung „Vorwärts“ noch am selben Tag: „Wir können später nach Belieben eine passende Bezeichnung wählen.“
Damit war die bisweilen heftige Diskussion über die Inschrift eröffnet, an der sich auch prominente Geister wie der Publizist Maximilian Harden beteiligten. Der „Berliner Lokal-Anzeiger“ etwa fand die fehlende Inschrift ziemlich daneben. schließlich sei das deutsche Volk der Bauherr, doch „dass der Baumeister dem Bauherrn das widmet, ist nicht üblich“. Der „Kladderadatsch“ dagegen ulkte, am besten solle dort „Eingang nur für Herrschaften“ stehen.
Bald wurde spekuliert, warum wohl die Fläche leer geblieben sei, und rasch fiel der Verdacht auf den allem Demokratischen abgeneigten Kaiser, was die Reichsregierung Anfang Januar 1895 bestritt: „Die Entscheidung des Kaisers in dieser Frage ist noch nie angerufen worden, und eine allerhöchste Willensäußerung ist bisher nicht ergangen.“ Man müsse die nächste Sitzung der Baukommission abwarten. Die entschied mit sieben gegen fünf Stimmen für „Dem Deutschen Reich“. Wilhelm II. setzte in einem Vermerk auf der Akte einen eigenen Vorschlag entgegen: „Der deutschen Einigkeit“. Es geschieht – nichts.
Es folgten zwei Jahrzehnte der Leere über dem Reichstagsportal. Erst im Herbst 1915 kam Bewegung in die Angelegenheit. Der Krieg war offenbar doch nicht so schnell zu gewinnen, wie die meisten gedacht hatten, ja, er wurde immer blutiger, ohne absehbares Ende, und das Volk begann heftig zu murren. Ein Artikel im „Leipziger Tageblatt“ vom 9. August 1915 soll der Auslöser für eine Initiative von Unterstaatssekretär Arnold Wahnschaffe in der Reichskanzlei gewesen sein. Darin schlug das Blatt erneut die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ vor. Die könne dazu beitragen, das Volk mit seinem Monarchen zu versöhnen – eine Idee, die Wahnschaffe wenig später an den Chef des Geheimen Zivilkabinetts Rudolf von Valentini weitertrug: „Seine Majestät hatte damals Bedenken, die Anbringung unterblieb und ihre Ablehnung gab zu unliebsamen Erörterungen Anlass.“ Jetzt aber würde die Inschrift „gut wirken und Seiner Mäjestät gedankt werden“. Unter den „heutigen Verhältnissen“ sei eine nochmalige Ablehnung kaum denkbar, doch sollte man der Sache „keine große Wichtigkeit“ beilegen, sie vielmehr still erledigen. Die mit dem Kaiser abgestimmte Antwort kam prompt per Telegramm: „falls ausschmueckungskommission inschrift beschlieszt, wird kein widerspruch dagegen erhoben.“
Und so konnte Reichstagspräsident Johannes Kaempf bereits zwei Tage später dem Plenum verkünden, dass die Widmung nun endlich angebracht werde. Aber in welcher Schrift? Eine neue Debatte setzte ein: Lateinische Lettern oder lieber Fraktur? Mit Groß- und Kleinschreibung, was aber laut Grammatik dazu geführt hätte, dass das Adjektiv „deutschen“ kleingeschrieben werden müsste – für aufrechte Patrioten undenkbar. Es wurde schließlich eine Art römische Antiqua-Schrift mit altdeutschen Frakturanleihen, alles in Großbuchstabeb, entworfen von dem Architekten, Designer und Typografen Peter Behrens, unterstützt von der Kalligrafin Anna Simons.
Zwischen der Entscheidung und der Realisierung des Projekts verging aber mehr als ein Jahr, bis die Reichskanzlei in ihren Unterlagen festhalten konnte: „Depot Spandau 7/10.16 überweist Empfangsschein über die an die Firma S.A. Loevy in Berlin abgegebene Geschützbronze zur Herstellung der Buchstaben für die Inschrift am Reichstagsgebäude.“ Angeblich auf Geheiß Wilhelms II. hatte man keine neue Bronze – die wurde ohnehin an den Fronten gebraucht – für die 60 Zentimeter hohen Lettern gewählt, sondern zwei französische Beutekanonen von 1813, dem Jahr des ersten Sieges über Napoleon. Wenn die unliebsame Inschrift schon sein musste, dann sollte sie zumindest aus patriotisch veredeltem Material hergestellt werden.
Auf Siegfried und Albert Loevy, die Firmeninhaber, muss der Auftrag wie der endgültige Beweis gewirkt haben, dass die Familie in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen, die Assimilation also gelungen war. Die Loevys, denen das Jüdische Museum Berlin 2003 eine Ausstellung gewidmet hatte, waren Juden, erst 1855 war ihr Vater Samuel Abraham Loevy aus Posen nach Berlin umgezogen und hatte in der Großen Hamburger Straße 8 eine „Roth- und Gelbgießerei“ eröffnet. 1865 zog sie in die Dragonerstraße 14, 1897 in die Gartenstraße 96, dort bereits mit 80 Arbeitern – ein zunehmend florierendes Unternehmen, dessen Spuren noch immer in Berliner Altbauten zu finden sind, Baubeschläge oder auch Türklinken wie der berühmte Gropius-Drücker. 1910 war die Firma dem Deutschen Werkbund beigetreten, arbeitete mit Wegbereitern der Moderne wie Henry van de Velde, Alfred Grenander, Mies van der Rohe, Erich Mendelsohn und eben Peter Behrens zusammen.
Der hatte 1910 die Kaiserliche Deutsche Botschaft in Sankt Petersburg entworfen, samt einer imposanten Dioskurengruppe aus Bronze. Gegossen hatte sie die Firma Loevy, die im selben Jahr zum „Kaiserlichen Hoflieferanten“ ernannt wurde. Und sechs Jahre später durften deren Arbeiter eben aus zwei Beutekanonen die Inschrift für den Reichstag formen und vom 20. bis 24. Dezember 1916 anschrauben – wie vom Unterstaatssekretär Arnold Wahnschaffe vorgeschlagen, ohne großes Aufsehen. Öffentlich registriert wurde das damals kaum.
Alle Ehren haben den jüdischen Besitzern aber nichts geholfen. Unter der Nazi-Herrschaft wurde die Firma „arisiert“, die Nachkommen des Gründers verfolgt, vertrieben, ermordet. Den von den Nazis entfesselten Krieg hat die Inschrift aber halbwegs überstanden. Nur das V und ein D waren verloren gegangen – D wie deutsch.
Der Katalog zur Loevy-Ausstellung im Jüdischen Museum von 2003 ist im dortigen Shop für fünf Euro erhältlich oder über Janine Lehmann, Tel. 259 93 410, info@jmberlin.de, zu beziehen („Dem Deutschen Volke“. Die Geschichte der Bronzegießer Loevy. 192 Seiten mit farbigen Abbildungen und einer CD-ROM, DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln). Das Auschwitz-Komitee hat 2012 zum selben Thema das dort gratis erhältliche Heft „Die Menschen vor der Schrift“ des Berliner Journalisten und Autors Bernd Oertwig herausgebracht (www.auschwitz.info)
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: