Brandenburg: Psychiatrisches Gutachten entlastet Torben P. 18-Jähriger war aufgrund seiner familiären Situation schwer depressiv und zum Tatzeitpunkt volltrunken
Berlin - Der wegen versuchten Totschlags angeklagte Berliner U-Bahnschläger Torben P. war bei seiner Tat möglicherweise nur eingeschränkt steuerungsfähig.
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Berlin - Der wegen versuchten Totschlags angeklagte Berliner U-Bahnschläger Torben P. war bei seiner Tat möglicherweise nur eingeschränkt steuerungsfähig. „Ich kann nicht ausschließen, dass die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt erheblich eingeschränkt war“, sagte die als psychiatrische Sachverständige geladene Gutachterin Cornelia Mikolaiczyk am Dienstag vor dem Landgericht Berlin. Dem 18-jährigen Schüler wird vorgeworfen, am Ostersamstag auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße einen Mann geschlagen und gegen den Kopf getreten zu haben. Dem mitangeklagten Nico A. wird Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen; er hatte einen Mann angegriffen, der zu Hilfe geeilt war.
Die Gutachterin hatte Torben P. insgesamt zehn Stunden lang untersucht. Sie habe ihn in einer „schwierigen Situation“ für sich und seine Familie angetroffen, ausgelöst von der massiven Medienberichterstattung über den Fall. Er habe zunächst nur stockend berichten können, sei gereizt und ablehnend gewesen. Auffällig sei gewesen, dass er sehr starke familiäre Belastungsmomente wie die Krankheiten der Eltern nicht herausgestellt habe. Die Eltern sind beide Frührentner, sie leiden unter schwerer Diabetes, der Vater auch unter Parkinson – er saß zeitweilig im Rollstuhl – die Mutter unter Depressionen. Zudem hatte die Familie in beengten Verhältnissen die demente Großmutter für Jahre aufgenommen und gepflegt.
In weiteren Gesprächen habe sich Torben P. zunehmend offen gezeigt. Er sei in der Lage gewesen, seine Person selbstkritisch zu reflektieren. Deutlich sei aber geworden, dass er gegenüber den Eltern, die er als „symbiotische Einheit“ erlebte und die zeitweilig nur im Bett lagen, starke Unterlegenheitsgefühle entwickelt habe. Bei einem weiteren Gespräch sei er dann „wie abgeschnitten“ gewesen, habe von seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gesprochen. Beim gemeinsamen Betrachten der Videobilder aus der Tatnacht habe er geschockt reagiert. Er sei entsetzt von sich selbst aus der Praxis geflüchtet. „Das erlebt man auch nicht häufig“, sagte die Ärztin.
Torben P. sei in diesen Situationen „schwerwiegend latent suizidgefährdet“ gewesen, er sei „depressiv-ängstlich“, habe wenig Selbstvertrauen und starke Selbstzweifel. Er sei insgesamt überdurchschnittlich intelligent, bleibe aber labil und noch unreif. Tests hätten einen hohen Wert bei der Selbstaggression gezeigt, insgesamt habe er eine „erhöhte aggressive Reaktionsbereitschaft“. Dies wechsele sich ab mit starken Schuldgefühlen. Im Elternhaus seien die Krankheiten der Eltern „täglich präsent“ gewesen, zugleich galt es aber als Tabu, darüber zu reden. „Man war gemeinsam und fürsorglich, aber es war auch jeder vereinzelt und für sich.“ Die Eltern seien fürsorglich, aber die Krankheiten hätten den Alltag „an allen Ecken und Enden“ bestimmt. „Er hat leiden müssen.“ Die Eltern hätten nicht früh genug erkannt, dass hinter vielen Fehlzeiten des Jungen in der Schule eine depressive Symptomatik steckte. Sie waren erst alarmiert, als sich der Junge im Sportinternat „von oben bis unten“ mit einem Messer selbst verletzt hätte.
Mikolaiczyk spricht von einer „schweren depressiven Episode“ Torbens als Reaktion auf das Tatgeschehen und errechnete für den Tatzeitpunkt einen Alkoholgehalt im Blut des Angeklagten von 3,1 bis 3,6 Promille. Auch die Videos hätten Torben P. „enthemmt“ gezeigt, ein Kontrollverlust zeige sich aber nicht: Nico A. und er hätten angemessen reagiert, als sie von einem Mann Minuten vor der Tat angesprochen worden seien.
Die Gutachterin geht davon aus, dass Torben P. trotz Volljährigkeit noch einem Jugendlichen gleichzusetzen sei. Die Elternbindung sei innerlich noch sehr stark, ein Versuch im Sommer 2010, auszuziehen und sich abzunabeln, sei gescheitert. Dass die Eltern die gemeinsame Familientherapie abgebrochen hätten, nimmt sie als Beleg, dass Torben P.s familiäres Umfeld äußerlich intakt sei. Innerlich lebe aber jeder für sich allein.
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