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Ranger Arno Schimmelpfennig

© Kitty Kleist-Heinrich

Uckermarck-Ausflug: Safari zwischen Baum und Borke

Eine Wanderung mit dem Ranger im Boitzenburger Land ist wie ein Gang durch 400 Jahre Adelsgeschichte. Großes Naturtheater, das schon bald dahin sein könnte

Am späten Vormittag, als die Sonne schon hoch am uckermärkischen Himmel steht, offenbart Arno Schimmelpfennig sein inniges Verhältnis zu einer dicken Eiche. Seine Finger fahren die rissige Borke entlang, dann legt er die Arme an den Stamm, aber er kommt nicht weit. „Gut vier Meter Durchmesser. Ein bildschöner Baum!“

Vor knapp 150 Jahren ­wurde diese Eiche gepflanzt. Sie breitet ihre Äste am Fuße des Hügels aus, auf dem die Kirche St. ­Marien mit ihrer barocken Turmhaube den höchsten Punkt von Boitzenburg markiert.

Unter seiner Lieblingseiche trifft sich Natur-Ranger Arno Schimmelpfennig mit all jenen, die in seinem Gefolge wahlweise den kleinen oder großen „Boitzenburger“ gehen oder sogar den „doppelten Boitzenburger“ schaffen wollen. Rundwanderwege, die das „Wandermagazin“ 2009 zu den schönsten Deutschlands kürte. Zurecht.

Selten gewinnt man unterwegs auf zehn oder 20 Kilometern Länge so vielfältige Eindrücke. Naturwunder und spannende geschichtliche Zeugnisse, alles liegt in Boitzenburg und drumherum am Wegesrand: Urwald und Biberdamm, eine Klosterruine, Findlinge, ein Park mit Architektur- und Kunstschätzen und ein Märchenschloss. Erbe eines Adelsgeschlechts, das mehr als 400 Jahre bis 1945 die Wälder und Wiesen hier bewirtschaftete und namhafte Architekten und Künstler aus Berlin in die Provinz holte.

Arno Schimmelpfennig, 59, kennt all diese Geschichten. Das brandenburgische Adelsgeschlecht der Grafen von Arnim hatte hier seit 1528 seinen Stammsitz. „Kunstsinnige Leute“, sagt Schimmelpfennig. In ihrem Auftrag schufen Friedrich August Stüler, Carl Gotthard Langhans, Johann Gottfried Schadow, Peter Joseph Lenné und Martin Gropius in Boitzenburg Bauten und Kunstwerke.

Der Ranger mit grünem Filzhut, Parka, Outdoorhose und festem Schuhwerk, am Rücken den Sticker „Uckermark Safari“, schultert sein Fernglas und startet mit uns zu einer seiner Touren; mit langen, festen Schritten geht er voran, hinauf zur Kirche „St. Marien auf dem Berge“. Seine Familie lebt seit 1910 in Boitzenburg, hier ist er geboren.

Er liebt die tiefen Wälder der heutigen amtsfreien Gemeinde „Boitzenburger Land“ im Naturpark Uckermärkische Seen und führt Besucher gern durch seine grüne Heimat. Seine Ausbildung zum Ranger absolvierte er im Biosphärenreservat Chorin.

Bisons und Baumriesen

Vom Gotteshaus hat man den schönsten Blick über Boitzenburg - und auf das Schloss. ­Schlanke Türmchen mit wasserspeienden Drachen, geschwungene Giebel, Zinnen und Zwiebelhauben ragen über die Baumwipfel, ein Stilwirrwarr aus Renaissance, Barock und Neogotik.

„Neuschwanstein des Nordens“ heißt Schloss Boitzenburg in der Werbung. Ein bisschen hochgegriffen, aber immerhin nach dem Neuen Palais in Potsdam Brandenburgs zweitgrößte Schlossanlage. Dennoch ist die Gegend als Ausflugsziel im Vergleich zur nahen Feldberger Seenlandschaft wenig bekannt; Schimmelpfennigs Ranger-Touren sollen helfen, das zu ändern.

Wir entscheiden uns für den kürzeren Rundweg, Dauer: etwa drei Stunden. Die August-Bebel-Straße hinab, hinaus aus dem 1500-Seelen-Ort. Erster Haltepunkt: ein mächtiger, in Holz gehauener Wisentkopf zur Erinnerung an den Versuch des Grafen Joachim Dietlof von Arnim-Boitzenburg, die europäischen Bisons zu schützen. Um 1920 waren sie vom Aussterben bedroht; hier weidete bis 1945 von Arnims Wisentherde im Schatten dreier Baumriesen. Das Eichen-Trio hat überlebt. „Damals waren die Bäume schon hundert Jahre alt“, sagt Schimmelpfennig. Nach Kriegsende wurden die Grafen enteignet und vertrieben. Wilderer erschossen die Wisente.

An der nächsten Lichtung steht die Ruine des im 30-jährigen Krieg zerstörten Nonnenklosters Marienpforte der Zisterzienser. Seit mehr als 350 Jahren schleift der Wind die backsteinroten Gemäuer, ein Bild wie von Caspar David Friedrich. Hell klingt der Ruf der Turmfalken. Berlins „Shakespeare Company“ hat hier unter freiem Himmel „Romeo und Julia“ gespielt.

Großes Naturtheater

Im angrenzenden Hutewald stehen Hunderte Eichen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Schweine in Eichenhainen gehütet, ihr Fleisch bekam durch den Genuss der Eicheln ein würziges Aroma. Natürlich fraßen sie auch junge Triebe anderer Gehölze, weshalb sich die ­Eichen konkurrenzlos entfalten konnten. „Eichen brauchen Licht und Platz“, sagt der Ranger. „Sie werden bis zu 800 Jahre alt.“ Er umrundet eine und legt dabei 7,10 Meter zurück. Die Baumkrone ist fast kahl, verschattet eben, Hainbuchen und Fichten sind herangerückt. Seit Jahrzehnten wächst die Konkurrenz weitgehend ungehindert, der Hutewald sei als alte Natur- und Kulturlandschaft gefährdet, sagt Schimmelpfennig. „Hier wird zu wenig gerodet.“

Als die Familie von Arnim im 16. Jahrhundert die Standesherrschaft Boitzenburg in Besitz nahm, war das Dorf von Feldern umgeben. Die Grafen forsteten das Land auf, gründeten Tiergehege, legten Wege im Hutewald an und sogar Sichtachsen wie in einem Park. Bis heute heißt ihr Werk „Boitzenburger Tiergarten“.

Findlinge wie der „Verlobungsstein“ oder „Helenenstein“ zeugen davon. Längst hat die Natur das Planwerk zurückerobert. Wir tauchen ein in einen Laub- und Nadelwald, dicht und üppig. Bizarr ragen die Wurzeln umgestürzter Hainbuchen empor, Wasserläufer sausen über einen Waldsee, am Himmel kreist der Fischadler, ein roter Milan setzt zum Sturzflug an, ein kobaltblauer Eisvogel flitzt über die Uferböschung, in einem Astloch nisten Eulen. Großes Naturtheater. „Besondere Lebensräume und Arten werden hier konsequent geschützt“, sagt Arno Schimmelpfennig sichtbar stolz.

Ein Wegweiser leitet zum Ort zurück. Schimmelpfennig zeigt auf ein gründerzeitliches Gebäude: „Das Oberinspektorenhaus.“ Ein paar Schritte weiter blühen Astern und Dahlien vor dem grün gestrichenen Fachwerkhaus des einstigen Schlossgärtners.

„Damals der Gartenbaudirektor“, sagt Schimmelpfennig schmunzelnd, „es musste ja alles hochherrschaftlich sein.“ In seiner Familie wurden diese Geschichten von Generation zu Generation weitererzählt. Sein Großvater lenkte die Schimmel der sechsspännigen Grafenkutsche, sein Großonkel war der Gutsinspektor.

Nun geht es in Richtung Schlosspark. „Jetzt beginnt der Spaziergang zu Lenné, Langhans, Gropius und Schadow.“ Zwischen Boitzenburg und Berlin gebe es kunsthistorische Berührungspunkte. Der Schlosspark oder „Carolinenhain“ wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Peter Joseph Lenné angelegt.

Verwahrloste Schönheit

Der preußische Gartenbaumeister schuf Sichtachsen, Baumgruppen und Erhebungen. Vom Apollotempel, den Friedrich August Stüler entwarf, blickt man dank einer solchen Schneise direkt zum Schloss. Am Eingang des Parks bewachen zwei steinerne Löwen die Erbbegräbnisstätte der Familie von Arnim, der eine blickt zum Schloss, der andere zur Kirche St. Marien. Die Anlage ist arg verwahrlost. In noch traurigerem Zustand sind die Gropius-Kapelle, wegen ihrer Ziegel auch „Rote Kapelle“ genannt, und der Schlangentempel.

1875 wurde die Kapelle nach Plänen des Berliner Baumeisters errichtet, 1986 zerstörte ein umgestürzter Baum das Dach. Ein Förderverein sammelt Geld zur Rettung des einzigen von Gropius entworfenen Sakralbaus.

Zur Ruine verkommen ist auch der Schlangentempel. Im bröckelnden Giebelgesims sieht man noch die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, Symbol des ewigen Lebens. 1804 wurde der Tempel zum Gedenken an Friedrich Wilhelm von Arnim errichtet, seine Frau Freda Antoinette beauftragte den Baumeister des Brandenburger Tores, Carl Gotthard Langhans, mit dem Entwurf. Sie selbst saß Johann Gottfried Schadow für eine Statue Modell, ihr Hundchen zu Füßen, Symbol der Treue.

Die Statue „Die Trauernde“ stand inmitten des Gedenkortes, 1987 wurde sie nach Berlin gebracht. Heute liegt sie in einem Depot auf der Museumsinsel. Im Boitzenburger Schlangentempel hängt nur ein Bild.

„Boitzenburg braucht dringend eine Restaurierungsoffensive“, sagt Schimmelpfennig. Nur das Schloss, heute ein Kinder- und ­Jugendhotel, steht frisch herausgeputzt da. Zum Abschied zieht es den Ranger noch in den Marstall.

Das einstige Stallgebäude wurde umfassend restauriert, es beherbergt eine Kaffeerösterei, Chocolaterie, Konditorei und Brauerei. Es duftet nach frisch gerösteten Arabica-Bohnen. Der Ranger holt sich eben einen Espresso, da brummt sein Handy. Eine Berliner Wandergruppe will ihn für den „Großen Boitzenburger“ buchen.

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