Brandenburg: Tausende besuchten „Zug der Erinnerung“
Kritik an Umgang der Bahn mit ihrer Geschichte / Antisemitischer Zwischenfall
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Berlin – Glockenklar klingt die Stimme von Avital Gerstetter am Sonntag im Berliner Ostbahnhof. Mit liturgischen Gesängen begrüßt die jüdische Kantorin den „Zug der Erinnerung“, der am Mittag in der Hauptstadt eintrifft. Zehn Tage werden die drei Waggons mit einer Gedenkausstellung in Berlin Halt machen: Weitere Stationen sind die Bahnhöfe Lichtenberg, Schöneweide, Westhafen sowie Grunewald, von wo aus während des NS-Regimes Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden.
Tausende Besucher verfolgen die Zeremonie auf dem Bahnsteig am Gleis 1. Sie sind erschüttert von den historischen Fotos in Zugfenstern, die verängstigte Familien bei der Deportation zeigen. Zugleich eint sie die Wut über die Haltung der Deutschen Bahn, die einen Halt der Ausstellung wegen Sicherheitsbedenken im Hauptbahnhof verweigert hatte und von den Initiatoren des Ausstellungsprojekts hohe Streckengebühren forderte.
Letzteres ist für den gebürtigen Westfalen Herbert Shenkman besonders unverständlich. „Die Deutsche Reichsbahn verdiente während der Deportationen vier Pfennig pro Kilometer und Person“, sagt der heute 84-Jährige. Er hatte nach eigenen Worten „das zweifelhafte Vergnügen, viermal gegen meinen Willen mit der Reichsbahn befördert zu werden“. Erstmals war das im Juli 1942 der Fall, als er und Verwandte ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht wurden – perfiderweise nicht ohne am Bahnhof eine Abtretungserklärung für das Familieneigentum zu unterzeichnen.
Später ging seine „Reise“ nach Auschwitz und von dort zur Zwangsarbeit ins Thüringische. Selbst kurz vor Kriegsende, da war ihm und Kameraden die Flucht vor den Nazi-Schergen gelungen, habe die Bahn nochmals geholfen, „der Freiheit zu entgehen“. Die Gruppe fiel der Gestapo in die Hände, die sie erneut auf Transport schickte.
Bereits am Samstagabend richteten Vertreter von antifaschistischen Organisationen und Politiker bei einer Protestkundgebung vor dem Brandenburger Tor scharfe Worte an die Adresse der Bahn. Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) sagte als offizieller Vertreter des Senats, Bahnchef Hartmut Mehdorn habe „politisch und menschlich versagt“. Der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma, Romani Rose, appellierte an Mehdorn, seine Blockadehaltung in puncto Hauptbahnhof aufzugeben.
Im Anschluss entzündeten die Demonstranten nach einem Schweigemarsch vor der Bahn-Zentrale am Potsdamer Platz Kerzen zum Gedenken an die deportierten NS-Opfer. Die 4646 Lichter sollten daran erinnern, dass ebenso viele Berliner Kinder, zu denen auch sogenannte Zigeuner gehörten, auf Nazi-Geheiß verschleppt wurden. Ein junger Iraker, der die Veranstaltung mit antisemitischen Parolen störte, wurde von der Polizei festgenommen. Sie leitete gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung und Beleidigung ein.
Im „Zug der Erinnerung“ werden Fotos und Lebenszeugnisse von deportierten Kindern und Jugendlichen aus ganz Europa gezeigt. Der Zug startete am 8. November 2007 in Frankfurt am Main. Ziel ist die Gedenkstätte Auschwitz in Polen, in der die Schau am 8. Mai ankommen soll.
Laut Mitorganisatorin Tatjana Engel wird derzeit geprüft, ob die Ausstellung auf Rädern danach noch an drei weiteren Standorten gezeigt werden kann. Von Berlin aus rollt der Zug in die Städte Brandenburg an der Havel, Potsdam und Cottbus.
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