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Brandenburg: Über die Mauer in den Osten

Vor 25 Jahren wurde das Lenné-Dreieck besetzt. Die Aktion endete fünf Wochen später mit einem Flucht-Happening

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Lenné-Dreieck? Vergessen, ein Begriff aus ferner Zeit, als diese exotische Brache am Tiergartenrand Schauplatz der verrücktesten Episode im Schatten der Mauer war, samt „Massenflucht“ von West nach Ost. Nur wenigen, die am Potsdamer Platz das Sony-Center oder das Hotel Ritz Carlton betreten, ist bewusst, dass sie auf einem vor 25 Jahren heiß umkämpften Terrain stehen.

Anno 1988 ist das vier Hektar große Areal zwischen Ebert-, Bellevue- und Lennéstraße das Herzstück eines umfangreichen Gebietsaustauschs, alles unbewohnte Flächen zur Begradigung der Mauer. Es wird am 1. Juli von Ost- an Westberlin fallen. Beauftragte des Senats und der DDR-Regierung haben den Vertrag am 31. März geschlossen, im April reißen Ost-Arbeiter den Grenzzaun ein, eingemauert war das Dreieck nie.

Das vermeintliche Niemandsland, noch nicht Westen, kaum mehr Osten, ruft die alternative Szene auf den Plan. Naturschützer wollen das Biotop retten, das sich über Jahrzehnte entfaltet hat – Wildwuchs, schlanke Birken, angeblich vom Aussterben bedrohte Pflanzen. Hier steht kein Haus mehr, nur Kellereingänge und Bordsteinkanten sind zu erkennen. Die Bürgerinitiative Westtangente protestiert gegen alte Senatspläne, die nicht aktuell, aber virulent sind, dort eine Nord-Süd-Schnellstraße zu bauen. Linksaktivisten wollen Eberhard Diepgens CDU/FDP-Senat ärgern, besonders den Innensenator Wilhelm Kewenig, der 1987 Kreuzberg hatte abriegeln lassen.

Am 26. Mai besetzen 30 Umweltschützer das Biotop, bald sind es 200 bis 300 Besetzer. Von sanften Graswurzelschützern bis zu rauflustigen Autonomen und Punks ist alles dabei, auch der Westberliner SED-Ableger SEW. Sie nennen es „Kubat-Dreieck“ – nach Norbert Kubat, der sich am 26. Mai 1987 in Untersuchungshaft umbrachte. Er war bei den schweren Kreuzberger Krawallen gefasst worden.

Zelte und Bretterbuden werden errichtet, ein Piratensender, „Volxküche“. Gräben für Plumpsklos und „Schutzwälle“ werden gezogen. DDR-Grenzsoldaten und britische Militärpolizisten belassen es bei anfänglichen Aufforderungen, das Gebiet zu verlassen. Die DDR will nicht eingreifen, der Senat darf nicht, noch ist es Ost-Gebiet, der britische Sektor ist nicht berührt. So lässt es sich bei schönem Wetter wunderbar im wilden „Kubat-Sektor“ kampieren, am Lagerfeuer debattieren und Musik machen – oder Räuber und Gendarm mit West-Polizisten spielen, die das Gelände Tag und Nacht bewachen.

Die Alternative Liste unterstützt die Besetzer vehement. Harald Wolf, hauptamtliches Vorstandmitglied und eine im AL-Milieu seltene Autorität, bringt höchstpersönlich als „symbolische Geste der Solidarität“ eine Ziege und zwei Hühner vorbei, Kaninchen und Hunde haben die Besetzer schon. Nach der Wende macht Wolf in der PDS Karriere und bringt es zum Wirtschaftssenator im rot-roten Senat. Der Charlottenburger AL-Bezirksverordnete Stephan Noe fungiert als Sprecher der Besetzer und ist alle Tage dort. Na ja, die Unterstützer schlafen lieber zu Hause.

Nur der Senat will die Besetzer vergraulen, er duldet keine rechtsfreien Räume. Also umzäunt die Polizei das Gelände mit Absperrgittern. Die Begründung – „lebensgefährliche Munitionsablagerungen aus dem Zweiten Weltkrieg“ – ist den Besetzern schnuppe. Damit eskaliert die Lage. Die üblichen Wurfgeschosse fliegen: Steine und Glaskugeln, teilweise mit Zwillen abgeschossen, Molotowcocktails. Die Polizei geht von außen hart vor, sie setzt Wasserwerfer und Reizgas ein. Es kommt vor, dass Grenzsoldaten, die Tränengas abkriegen, mit Gasmasken an der Mauerkrone auftauchen und die West-Polizei auffordern, den Beschuss des Territoriums der DDR sofort einzustellen.

Zugänglich ist das Dreieck nur noch durch den Unterbau, den engen Pfad zwischen der Demarkationslinie und der Mauer an der Ebertstraße, doch es gibt Helfer. Die „Rollheimer“, die ihren eigenen „Freiraum“ aus Wohnwagen im Mauerwinkel der Köthener Straße haben, treten als Wahrer „des Menschenrechts auf Wasser“ ins Bild und karren Wassertanks durch den Unterbau herbei.

An der Aussichtsplattform am Potsdamer Platz ist auch allerhand los. Touristen blicken in den Todesstreifen und zugleich auf die feindlichen Westberliner Heerlager. Ein Schild der Besetzer animiert sie zu Spenden: „Füttern erlaubt!“ Noe eröffnet sogar ein Spendenkonto bei der Sparkasse. Das absurde Theater macht Schlagzeilen. Westberliner Medien berichten ohnehin täglich, die Ostberliner gelegentlich über das Vorgehen „schwer bewaffneter Polizeieinheiten“.

Klar, dass der „Abenteuerspielplatz“, wie Noe sagt, am 1. Juli geräumt wird. „Wir haben gealbert, wenn die Polizei kommt, hüpfen wir über die Mauer“, erzählt er. Als am Morgen 900 Polizisten im Anmarsch sind, inszenieren 180 Besetzer ihre „Massenflucht“, reinstes Happening. Absperrgitter dienen als Leitern, DDR-Grenzer helfen beim Sprung von der Mauer. „Selbst Hunde und Fahrräder wurden mitgenommen“, so Noe. Er springt nicht: „Ich fliehe doch nicht in den Schutz eines restriktiven Systems. Ich war der Letzte, der das Lenné-Dreieck verlassen hat.“

Im Todesstreifen stehen Lastwagen bereit, die die Mauer-Springer laut Noe zur Normannenstraße bringen, wo die Stasi die Personalien notiert. Nach Verwarnung und Belehrung, dass für Einreisen in die DDR die Grenzübergangsstellen zu benutzen sind, gibt es Frühstück. Dann werden die Besetzer gruppenweise nach Hause entlassen, die meisten mit West-Fahrkarten, da die „Firma Horch und Guck“ flink heraus hat, dass die BVG Sonderkontrolleure einsetzt. Die Rückkehrer spotten über die Stasi-Speisung: zu fette Wurst, zu wenig Käse.

Die 900 Polizisten haben wenig zu räumen. Sie finden noch 52 Besetzer vor, die sie nach Feststellung der Personalien bis auf einen Steinewerfer gehen lassen. Das Hüttendorf wird eingerissen, Kriegsmunition nicht entdeckt. Ob jemand den Ausflug über die Mauer mit der Stasi eingefädelt hat und wenn ja, wer, ist auch Wolf und Noe ein Rätsel. Von Stasi-Unterlagen über die Groteske knapp anderthalb Jahre vor dem Mauerfall fehlt bisher jede Spur.

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