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Tödliches Versagen. Am 19. Dezember raste der Tunesier Ani Amri mit einem gestohlenen Lastwagen auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in eine Menschenmenge. Der Sonderermittler Bruno Jost kommt zu dem Schluss: Zu dem Anschlag hätte es nicht kommen müssen, hätte die Polizei rechtzeitig gehandelt.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Brandenburg: Versäumnisse wurden verschleiert

Sonderermittler wirft Polizei im Fall Amri Versagen vor: Terroranschlag hätte verhindert werden können

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Berlin - Sonderermittler Bruno Jost hat die Vorwürfe gegen Beamte des Berliner Landeskriminalamtes im Fall Amri verschärft. „Die Manipulation des Berichts sollte eigene Versäumnisse verschleiern“, sagte Jost am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. In der Sitzung stellte Jost seinen Zwischenbericht vor, den die Innenverwaltung am Montag auf ihrer Internetseite veröffentlicht hat. Zu verantworten habe die Manipulation der Sachbearbeiter im Fall Amri, ein „Kriminaloberkommissar L.“ Zudem habe der Vorgesetzte von L. automatische Erinnerungsmails, dass an dem Ermittlungsverfahren seit mehreren Wochen nicht mehr gearbeitet werde, ignoriert. Vermutlich sei für L. schlicht Arbeitsüberlastung der Grund gewesen, die Ermittlungen gegen Amri nicht zu verfolgen. Bei einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft schwieg L., berichtete Jost.

Wie berichtet hatte Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Beamten wegen Urkundenfälschung und Strafvereitelung im Amt angezeigt, nachdem Jost im Mai die Manipulationen entdeckt hatte. Der frühere Staatsanwalt war im Mai vom Senat als Sonderermittler ernannt worden.

Jost sagte am Montag im Innenausschuss aber auch ganz deutlich: „Es gibt keine Hinweise auf flächendeckendes Fehlverhalten bei der Berliner Polizei.“ Dem Vernehmen nach werden derartige Erinnerungsmails zu verschleppten Ermittlungsverfahren „täglich 100 Mal weggeklickt“, wie es im Präsidium hieß. Geisel kündigte erneut an, dass im LKA die „kriminalpolizeilichen Standards überprüft“ werden sollen.

Schon im Mai hatte Jost berichtet, dass der LKA-Beamte im Januar 2017, also nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz vom 19. Dezember 2016, einen Bericht über Amri völlig umgeschrieben habe. Das Original vom 1. November umfasste zehn Seiten und dokumentierte 72 abgehörte Telefonate, die einen „gewerbs- und bandenmäßigen Drogenhandel“ von Amri belegten. Auch Mittäter wurden genannt. Auf dieses Delikt steht ein Jahr Mindeststrafe.

Der im Januar unter dem gleichen Aktenzeichen, aber auf November zurückdatierte verfasste „kleine“ Bericht umfasst dagegen nur vier Seiten und nennt sechs Telefonate, die alle nichts mit bandenmäßigem Drogenhandel zu tun haben. Mittäter werden nicht genannt. Amri wird in dem Bericht „möglicherweise Kleinsthändler“ genannt.

Innensenator Geisel zog im Mai die Schlussfolgerung, dass Amri bereits vor dem Anschlag in Untersuchungshaft hätte genommen werden können, der Anschlag also zu verhindern gewesen wäre. Diese These untermauerte Jost am Montag. Fünf Gründe hätten für einen Haftbefehl gesprochen: Amri habe weder Wohnsitz noch Arbeit gehabt, er sei sozial nicht integriert gewesen, sein Asylantrag sei abgelehnt worden und es habe eine Ausreiseverfügung gegen ihn vorgelegen. Nach diesen Kriterien kann ein Richter abwägen, ob ein Haftbefehl angemessen ist.

Jost berichtete weiter, dass er mittlerweile einen dritten Bericht entdeckt habe, einen „Zwitter“ zwischen dem Original und dem „kleinen Bericht“. Wozu die Polizei eine zweite Manipulation der Akte anfertigte, sei ihm noch völlig unklar, sagte Jost. Nach Fertigstellung des Zwischenberichts in der vergangenen Woche habe er unterdessen Hinweise erhalten, dass „eine weitere Person im Umfeld von Kriminaloberkommissar L. an den Manipulationen beteiligt“ gewesen sein könnte. Weitere Angaben wollte Jost mit Hinweis auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen nicht machen. Auffallend ist, dass Jost nicht von einem weiteren Beamten, sondern unbestimmt von „einer Person“ sprach.

Vor Jost hatte Thomas Beck, Leiter der Abteilung Terrorismus beim Generalbundesanwalt, den Stand der Ermittlungen referiert. Demnach sei Amri ein Einzeltäter gewesen, der sich vermutlich in seiner Haftzeit in Italien „so sehr radikalisiert hatte, dass er sich nicht integrieren wollte“. Beck sagte, dass Amri bewusst Geldbörse und zwei Mobiltelefone zurückgelassen habe. Dies sollte dem IS die Möglichkeit geben, sich zu dem Attentat zu bekennen. Vermutlich sei Amri selbst überrascht gewesen, dass er den Anschlag zunächst überlebt hatte. Seine Flucht dürfte er nicht geplant haben. Amri war Tage später in Italien bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet worden. Jörn Hasselmann

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