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Aufstand überall: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 brach mit voller Wucht herein. Auch hier, vor einem Klubhaus in Brandenburg (Havel).

© BStUB Berlin

Zum Jahrestag des 17. Juni: Vom Aufstand zur Ernüchterung

Spitzel wurden gelyncht, Funktionäre durchs Dorf geprügelt, LPGs aufgelöst. Am 17. Juni kam es auch in kleineren Orten des Bezirks Potsdam zu Unruhen.

Stand:

Am 17. Juni 1953 brach der Tumult in Teltows Schulen aus. „Bilder von Grotewohl, Pieck und Thälmann wurden in den Papierkorb geworfen. Schränke wurden demoliert, auch noch in der 5.“, heißt es in einem Bericht an die SED-Kreisleitung in Potsdam. Eine Pionierleiterin, die einschreiten wollte, wurde von den Kindern als „Kommunistenweib“ beschimpft. Und die Älteren aus der Siebten erklärten lauthals: „Wir streiken – genauso wie unsere Väter“. Die hatten bereits am Morgen in den großen Betrieben, dem VEB „Carl von Ossietzky“ und dem Geräte- und Zählerwerk „Askania“, die Arbeit niedergelegt.

Der Volksaufstand vor 60 Jahren erfasste nicht nur die Großstädte der DDR, auch über den Bezirk Potsdam brach er mit voller Wucht herein. Während das Regime in Potsdam selbst weitgehend die Oberhand behielt und Demonstrationen sofort aufgelöst wurden oder hinter abgesperrten Werkstoren stattfanden, kam der Protest weiter draußen schnell ins Rollen. Die Unterlagen der SED aus jenen Tagen, die im Landeshauptarchiv in Potsdam verwahrt werden, widerlegen die Annahme, dass es auf dem Lande ruhig blieb.

In Rathenow, wo am Vormittag 20 000 Menschen noch friedlich demonstrierten, wurde am Nachmittag der vermeintliche Polizeispitzel Wilhelm Hagedorn von der aufgebrachten Menge gelyncht. In Brandenburg (Havel), wo der Oberstaatsanwalt Harry Benkendorf nur knapp dem gleichen Schicksal entging, demonstrierten 15 000 Menschen, stürmten die örtlichen Schaltzentralen der SED und befreiten politische Häftlinge aus der U-Haft-Anstalt. Und aus dem Berliner Norden, aus Oranienburg, Hennigsdorf und Velten, marschierten weit über 10 000 Bau- und Industriearbeiter auf die Hauptstadt zu.

Aber auch an den Kleinstädten und Dörfern ging der Aufstand nicht spurlos vorüber, kam es zu Demonstrationen, streikten LPG-Mitglieder, wurden Parteisymbole zerstört und Funktionäre angegriffen. Da raufte sich selbst in Hohennauen (heute Landkreis Havelland) eine Demonstration von 150 Leuten zusammen, die vom Bürgermeister angeführt wurde. Da wurde auf Volkseigenen Gütern wie in Thyrow (Teltow-Fläming) gestreikt. Auch aus den Dörfern im Raum Kyritz wurde „direkte feindliche Arbeit“ gemeldet und konstatiert, dass man dieser nicht gewachsen sei – während im Raum Pritzwalk die Großbauern feierten und Lieder wie „Mein Schlesierland, wir seh’n uns wieder“ auf den Lippen hatten.

In Schmergow (Potsdam-Mittelmark) hatte sich bereits am Abend des 15. Juni eine Menschentraube vor der Bürgermeisterei gebildet. Die Demonstranten forderten die Freilassung von vier ihrer Nachbarn. Ein Mitglied des Gemeinderates wollte laut eines internen Berichtes die Menge beschwichtigen - „worauf ihm der Bauer Schulz erklärte, er solle seine Fresse halten, die Gemeindevertretung solle ihren Dreck einpacken“, wie es in dem Papier heißt.

Im Hohen Fläming, wo tausend Menschen am Vormittag in der Kreisstadt Belzig zusammengekommen waren, wurden acht „Genossen“ zusammengeschlagen, wie die SED-Kreisleitung nach Potsdam telegrafierte. Unter anderem wurde der Bürgermeister von Kuhlowitz zusammen mit zwei VdgB-Funktionären von Bauern „durch das Dorf bis nach Belzig geohrfeigt und geprügelt“.

Auch zwischen Teltow und Werder (Havel) wurde demonstriert und gestreikt – und das, obwohl man die Militärmaschinerie der sowjetischen Besatzer unmittelbar vor Augen geführt bekam. Der damalige Kleinmachnower Schüler Dietrich Kreße, der am Vormittag die Potsdamer Straße in Teltow überqueren wollte, notierte später in einem Erinnerungsbericht: „Panzer an Panzer, verschiedenste Kanonen, die von Lastwagen gezogen wurden. Die Kolonne von Kriegsgerät nahm kein Ende. Der Krach war unglaublich.“ Die Panzer waren auf den Weg nach Berlin – ob die Besatzer eingreifen würden, war längst nicht sicher. Vielmehr sah es so aus, als habe das SED-Regime abgewirtschaftet.

Der ein Jahr zuvor von Walter Ulbricht verkündete „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ war ins Stocken geraten. Er sah den Ausbau der Schwerindustrie, das Aufstellen einer eigenen Armee sowie die radikale Bekämpfung politischer Gegner vor. Als Folge dieser Politik blieben die Lebensmittelregale leer - und mittlerweile hatte jeder einen Verwandten oder Bekannten, der wegen geringster Anlässe in Haft saß. Der Anfang Juni 1953 verordnete „Neue Kurs“, der alles wieder revidieren und für Entspannung sorgen sollte, wirkte wie eine Bankrott-Erklärung.

Und so waren in Werder laut lange verschlossener Geheimberichte der sowjetischen Besatzer rund 1000 Menschen auf die Straße gegangen. Es müssen vor allem Bauern gewesen sein – in den Betrieben wurde noch lange diskutiert, ob man überhaupt streiken sollte. „Die Regierung hat Fehler gemacht und muss deshalb abtreten - denn wenn wir Fehler machen, werden wir auch entlassen“, wird der Abteilungsleiter Schleyhahn aus dem Schaltgerätewerk in einem Schreiben der SED zitiert. Lakonisch wird hinzugefügt, dass er sofort verhaftet wurde. Draußen auf der Straße lieferten sich indes die Demonstranten ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. „Bislang wurden 19 Provokateure verhaftet“, kabelte die lokale SED nach Potsdam, „die Volkspolizei erhält regelmäßig Hinweise“.

Letztlich waren es Panzer und Schützenketten der Sowjetarmee gewesen, die den Freiheitsbestrebungen des Volks ein Ende setzten. Während in den Städten die Arbeiter als tragende Schicht zurück an die Werkbänke und auf die Baustellen gezwungen wurden und während Stasi und Polizei ausschwärmten, um vermeintliche und tatsächliche Rädelsführer zu verhaften, war der Protest auf dem Lande nicht vorbei. In Reetz im Hohen Fläming feierten Einwohner eine Woche lang das Ende der DDR, bevor sie von der Realität eingeholt wurden. „In der Kneipe haben wir gesoffen und gesungen, das ,Deutschlandlied’. Ich war Kommunist. Und besoffen“, schilderte ein Ex-Funktionär nach der Wende seine Erlebnisse. Und aus Reesdorf bei Beelitz wird noch Ende Juni vermeldet: „Großbäuerliche Elemente versuchen, Unsicherheit in die Reihen der LPG zu tragen mit dem Argument, dass ein Regierungswechsel bevorstände.“

Tatsächlich wurde im gesamten Bezirk jede zehnte der gerade erst gegründeten Produktionsgenossenschaften wieder aufgelöst – ein enormer politischer Flurschaden für die SED. Vor dem 17. Juni enteignete oder sogar verhaftete Großbauern – dazu gehörte jeder mit mehr als 20 Hektar Boden – erhielten ihr Land zurück, vor allem weil die LPGs einfach zu ineffizient arbeiteten und allein die Bevölkerung kaum versorgen konnten. Die freien Bauern erhielten noch einmal eine Schonfrist – bis sie im „sozialistischen Frühling“ 1960 endgültig niedergerungen wurden.

Ansonsten machte sich nach dem 17. Juni weitgehend Ernüchterung breit. „Im Allgemeinen ist eine abwartende Haltung festzustellen, die teilweise aus Misstrauen besteht“, so der Situationsbericht über die Stimmung im Kreis Potsdam-Land. Wobei die Anwesenheit der Sowjet-Soldaten besonders deprimierend auf die Bevölkerung wirke, wie die Bürgermeisterin von Beelitz laut SED-Aufzeichnungen kritisch anmerkte. Aber sie allein waren die Gewähr dafür, dass die SED weitermachen konnte – für 36 weitere Jahre.

Thomas Lähns hat Geschichte und Politik an der Uni Potsdam studiert und zwölf Jahre als Journalist bei den PNN gearbeitet. Heute ist er Pressesprecher der Stadt Beelitz. Im Rahmen seines Magisterabschlusses hat er zum 17. Juni 1953 in der Potsdamer Region recherchiert, die Magisterarbeit wurde zum 60. Jahrestag veröffentlicht: ,„Aufstand zwischen Stadt und Land. Der 17. Juni 1953 im Bezirk Potsdam“, ISBN 9783732245994, 13,90 Euro

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