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Blick auf die Gebäude des Nähmaschinenwerks, die ab 1903 im Landkreis Prignitz entstanden sind.

© dpa/Oliver Gierens

Vom Lost Place zum Innovationsquartier: Nähmaschinenwerk Veritas in Wittenberge soll wiederbelebt werden

Wittenberge in Brandenburg war einst das europäische Zentrum der Nähmaschinenproduktion. Nach der Wende wurde der Betrieb abgewickelt. Jetzt hat ein Berliner Investor große Pläne für das knapp 32 Hektar große Gelände.

Von Oliver Gierens

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Er gehört zu den Wahrzeichen von Wittenberge (Landkreis Prignitz) und zeigt seit 1929 an, was die Stunde geschlagen hat: Der Uhrenturm direkt an der Elbe ist der zweitgrößte seiner Art in Europa und ein Zeugnis einer längst vergangenen Industriekultur.

Das Gelände um das rund 50 Meter hohe Bauwerk herum fiel nach der Wiedervereinigung größtenteils in einen Dornröschenschlaf. Doch bald könnte es wieder zum Leben erwachen: Die Eigentümergesellschaft BKLV Management GmbH aus Berlin will aus dem fast 32 Hektar großen Gelände ein Innovationsquartier mit Büros, Hotels, Gastronomie und viel Kultur machen.

Wo von 1904 bis Ende 1991 Nähmaschinen produziert wurden, hat Renaud Vercouter große Pläne. Bereits zur Landesgartenschau 2027 in Wittenberge soll ein erster Abschnitt des „Veritas Parks“, wie das Gelände aufgrund des früheren Namen des Nähmaschinenwerks heißt, fertig sein, sagt der BKLV-Geschäftsführer.

Blick auf den Uhrenturm des damaligen Singer-Nähmaschinenwerks im Landkreis Prignitz. Der Turm wurde 1928/29 erbaut und gilt heute als eines der Wahrzeichen der Elbestadt.

© dpa/Oliver Gierens

Aus der ehemaligen Mensa soll ein multimedialer Konferenzraum werden, der auch für Theateraufführungen oder Konzerte genutzt werden kann. Ein Hotel, ein Restaurant sowie rund 7000 Quadratmeter Bürofläche für Start-ups und Techfirmen sollen in diesem ersten Bauabschnitt in den leerstehenden Werkshallen entstehen. Gut 50 Millionen Euro will die Firma investieren.

Vercouter hat nach eigenen Angaben Bauprojekte in mehreren Ländern betreut, zuletzt ein Großprojekt in Berlin. Auf der Suche nach einem neuen Objekt wurde er in der „Provinz“ fündig. Er glaubt daran, dass gerade hier etwas Großes entstehen kann.

Seit der Corona-Pandemie sei Deutschland als Reiseziel wieder gefragter. Der Öko-Tourismus an der Elbe habe allein im letzten Jahr um gut zehn Prozent zugenommen. „Die Prignitz ist eine wunderschöne Gegend“, sagt er. Auch die Lage direkt am Fluss sei hervorragend. So soll ein kleiner See am Ufer im Zuge der Bauarbeiten wiederhergestellt werden.

Hinzu komme die günstige Lage von Wittenberge genau auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg. Die Elbestadt verfügt über den größten ICE-Halt in Brandenburg. Bis 2026 wird die Strecke für den geplanten „Deutschlandtakt“ der Bahn fit gemacht, am Bahnhof soll ein weiteres Gleis entstehen.

Die günstigen Mieten in der Region, der Trend zum Homeoffice sowie die horrend steigenden Kosten für Wohn- und Büroimmobilien in den Metropolen sind für Vercouter weitere Faktoren, warum das Geld der Investoren hier gut angelegt sei. Damit sei eine „kritische Masse“ für den Erfolg des Projekts erreicht. „Wenn man alles zusammenbringt, sind alle Zutaten da, um ein gutes Geschäft zu machen“, gibt sich der Investor überzeugt. Die Industriearchitektur der Kaiserzeit sei fantastisch, die Gebäudesubstanz sei in gutem Zustand.

Blick in die Werkshallen des früheren Singer- bzw. Veritas-Nähmaschinenwerks im Landkreis Prignitz, die seit Ende 1991 größtenteils leer stehen.

© dpa/Oliver Gierens

Zudem fange man in Wittenberge nicht bei null an. Die Stadt habe eine lange Industriegeschichte. Das findet auch Christian von Hagen, der viele Jahre lang Verwalter des Geländes war. 1903 habe die US-amerikanische Firma Singer begonnen, hier ein Nähmaschinenwerk zu errichten. Es sei die größte Niederlassung der Firma in Mitteleuropa gewesen, berichtet von Hagen, der jahrelang Führungen auf dem Gelände angeboten hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Singer-Werk demontiert. Die DDR habe aber bis 1990 eine Miete für das Gelände gezahlt, auf dem nach dem Zweiten Weltkrieg das Veritas-Nähmaschinenwerk entstand. Der Volkseigene Betrieb (VEB) lieferte die begehrten Maschinen sogar in den Westen. Bei „Quelle“ und „Neckermann“ konnte man sie im Katalog bestellen.

Nach 1990 habe die Treuhandanstalt das Werksgelände dem US-Unternehmen abgekauft. Aus dem VEB wurde eine GmbH, doch wie bei vielen DDR-Unternehmen erfüllten sich die marktwirtschaftlichen Träume nicht. Zum Jahresende 1991 gingen die Lichter aus.

Das Modell 8014-2 aus den Baujahren 1957 bis 1963. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden bis zum 20.12.1991 im Nähmaschhinen-Werk in Wittenberge 7.642.873 Veritas-Nähmaschinen produziert

© dpa/Bernd settnik

In den Folgejahren habe das Gelände mehrmals die Eigentümer gewechselt. Ein Käufer aus Niedersachsen sei im Jahr 2000 insolvent gewesen, danach habe das Werksgelände unter Zwangsverwaltung gestanden, berichtet von Hagen. In den Folgejahren blieb der Aufschwung größtenteils aus, nur ein paar kleine Firmen haben sich hier angesiedelt. Der Großteil der Gebäude steht jedoch leer.

Wittenberges Bürgermeister Oliver Hermann (parteilos) hofft, dass sich dieser Zustand bald ändert. „Das Gelände hat eine historische Bedeutung ersten Grades für die Stadtentwicklung“, macht er deutlich. Deswegen sei die Stadt sehr interessiert, wenn Eigentümer Pläne hätten. „Wir sehen diese erst einmal positiv und wollen Eigentümer, wenn sie Visionen und Ziele haben, auch begleiten und unterstützen.“

Die Pläne seien „sehr ambitioniert“, sagt Hermann. Ob sie zu verwirklichen seien, müsse der Eigentümer selbst beurteilen. Auch bau- oder denkmalrechtlich müssten manche der Pläne noch beurteilt werden.

Das Gelände hat eine historische Bedeutung ersten Grades für die Stadtentwicklung.

Oliver Hermann, parteiloser Bürgermeister von Wittenberge

Denn in einem späteren Bauabschnitt plant Renaud Vercouter ein Hochhaus, das fast so hoch werden soll wie der unter Denkmalschutz stehende Uhrenturm. Es soll aus drei einzelnen Türmen bestehen und ein weiteres Hotel beherbergen, sowohl für Touristen als auch für Geschäftsleute. In den Gebäuden am Elbufer soll Platz für Kunst und Kultur sein: Ein großes Fotografie-Museum ist hier laut Vercouter ebenso vorgesehen wie Bars, Restaurants sowie weitere Kunst- und Kultureinrichtungen.

Vercouter spricht von einem dritten Weg: Die Firmengebäude sollen die Kultureinrichtungen subventionieren und damit deren Existenz ermöglichen. Am Ende will der Investor in einem Zeitraum von knapp zehn Jahren rund 2000 Arbeitsplätze und drei Hotels entstehen lassen, gut 250 Millionen Euro investieren, ein Teil davon aus öffentlichen Fördermitteln. Das gesamte Projekt ist laut Vercouter auf Nachhaltigkeit angelegt, etwa durch Photovoltaikanlagen.

Von einem „Vorzeigeprojekt für ganz Europa“ spricht der Investor selbstbewusst. Am Ende werde die in der Nachwendezeit schwer gebeutelte Stadt „wieder gut wachsen“. (dpa)

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