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Brandenburg: Vor der Einschulung zur Therapie Experten beklagen

mangelnde Fähigkeiten

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Berlin - Sie können keinen Stift halten, sind sprachlos, sitzen vor dem Fernseher – viele Grundschüler können nicht sicher rennen, klettern oder sprechen. Allein in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres bezahlten die Krankenkassen in Berlin rund 19 000 Ergotherapien und mehr als 17 000 Sprachtherapien – das sollen doppelt so viele sein wie 2005.

Die Senatsgesundheitsverwaltung teilte am Montag mit, dass das Problem bekannt sei. Dass die Zahl der Berliner Kinder mit auffälligen Bewegungs- und Sprachdefiziten rasant steige, konnte die Senatsgesundheitsverwaltung jedoch nicht bestätigen. Der Verband der Berliner Kinderärzte schätzt, dass bereits jedes vierte Kind zwischen zwei und sechs Jahren eine logopädische oder ergotherapeutische Behandlung verordnet bekommt, um es „schulfähig zu machen“. Die offiziellen Einschulungsdaten für das derzeit laufende Schuljahr lägen jedoch noch nicht vor, sagte hingegen eine Sprecherin von Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (Linke). „Dass die Aufmerksamkeit zu dem Problem zugenommen hat, ist jedoch erfreulich.“ In den vergangenen Jahren habe es nur wenig Veränderungen etwa beim Fernsehkonsum der Kinder gegeben. Auch der Anteil der Kinder die Sprachschwierigkeiten hätten, sei mit 25 Prozent stabil. Den Senatsdaten von 2008 zufolge sah jedes zehnte Berliner Grundschulkind mehr als zwei Stunden täglich fern. Fast jedes sechste Kind verfüge über einen eigenen Fernseher. Das besorgt viele Sportfunktionäre. „Viele Kinder haben kaum noch eine richtige Alltagsmotorik. Sie werden oft zur und von der Schule gefahren, und sitzen dann vor dem Fernseher oder Computer“, sagte Heiner Brandi, beim Landessportbund für Jugend zuständig, dieser Zeitung. „Der Schulsport reicht da nicht aus, viele Grundschüler können nicht einmal mehr sicher rückwärtslaufen oder auch nur auf einem Bein stehen.“

„Wer niemals an einer Blume richtig riecht, auf keinen Baum klettern darf, keine Schere in die Hand bekommt oder einfach mal über Wiesen toben kann, dem gehen ganz entscheidende Erfahrungs- und Entwicklungschancen verloren“, sagt Amtsarzt Thomas Abel aus Mitte. Das Fernsehen könne dies alles „überhaupt nicht ersetzen.“ Im Gegenteil, „die Jungen und Mädchen schlaffen ab.“ Abel ist auch Beauftragter für den öffentlichen Gesundheitsdienst des Berliner Kinderärzteverbandes. Und in dieser Funktion bedauert er es, dass in seinem Bezirk gerade ein „sehr hilfreiches Projekt“ aus Finanzgründen gestrichen worden sei.

Weniger Fernsehen und mehr Ganztagsschulen forderte die Berliner Chefin der Bildungsgewerkschaft GEW, Rosemarie Seggelke. „Damit wäre wahrscheinlich schon ein großer Teil des Problems gelöst.“ Auch die Opposition sieht Handlungsbedarf. Sascha Steuer, bildungspolitischer Sprecher der Berliner CDU, sagte dieser Zeitung: „Die Pflicht zum Vorschulbesuch ist angebracht. Sprache etwa lernen Kinder mit drei Jahren am besten, nicht erst mit sechs, nach der regulären Einschulung.“ Außerdem müsse in den ersten zwei Schuljahren wieder die Möglichkeit eingeführt werden, zügig sonderpädagogischen Förderungsbedarf bei auffälligen Kindern festzustellen.Hannes Heine/Christoph Stollowsky

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