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Auf der Straße nach Frieden. Zusammen mit der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten demonstrieren mehrere Tausend Menschen am Sonntag in Berlin gegen Antisemitismus.

© dpa

Brandenburg: „Wer Juden angreift, der schlägt uns alle“

Zur Großkundgebung gegen Antisemitismus kommen 5000 Menschen ans Brandenburger Tor

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Berlin - Sie sind aus ganz Deutschland gekommen. Am Ende werden es an die 5000 Menschen sein, die sich am Sonntagnachmittag zur Großkundgebung „Steh auf – Nie wieder Judenhass“ vor dem Brandenburger Tor in Berlin versammeln. Sie haben Israel-Flaggen mitgebracht und Schilder, auf denen „Judenhass bedroht uns alle“ oder „Sicherheit für Juden“ steht. „Als wir die Veranstaltung planten, fürchteten wir, dass wir alleine hier stehen werden“, sagt Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, zu Beginn der Kundgebung. „Nun sind doch so viele Menschen gekommen. Das gibt mir Kraft und Zuversicht.“ Graumann ist erleichtert.

Im Sommer wurde bei Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg gebrüllt, Juden sollten „vergast“, „verbrannt“, „geschlachtet“ werden. In den sozialen Netzwerken wurden Hass, Häme und Hetze über Juden ausgeschüttet. Immer wieder wurden jüdische Menschen angegriffen und Synagogen attackiert. Die Politik verurteilte die Diffamierungen im Sommer sofort. Doch der gesellschaftliche Aufschrei kam erst, nachdem der Zentralrat ihn eingefordert hatte. „Wo bleibt die Empathie?“, fragt Graumann jetzt.

Mike Delberg, 25-jähriger Jura-Student, nickt. „In Zeiten wie diesen lernt man, wer unsere wahren Freunde sind“, sagt er. „Leider sind es weniger, als wir gehofft hatten.“ Der junge Mann hat das Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde in Berlin geleitet und den jüdischen Studentenbund gegründet. Bis vor Kurzem war er fest davon überzeugt, dass es sich als Jude in Deutschland gut leben lässt. Seit der Beschneidungsdebatte vor zwei Jahren und erst recht nach diesem Sommer ist er sich nicht mehr so sicher.

Seine Großeltern und Eltern sind vor über 40 Jahren aus der Ukraine nach Israel und dann nach Deutschland ausgewandert. Mike ist in Berlin aufgewachsen. „Deutschland ist meine Heimat, bei der Fußball-WM singe ich die Nationalhymne.“ Doch dann stand er daneben, als arabischstämmige junge Männer auf dem Kurfürstendamm „Jude, Jude, feiges Schwein“ brüllten und eine Israel-Fahne verbrannt wurde. Die Polizei habe nicht eingegriffen, sagt er. Das schockiert ihn genauso wie die Parolen.

„Wenn Menschen in Deutschland angepöbelt, beleidigt oder geschlagen werden, weil sie sich als Juden zu erkennen geben oder solidarisch mit Israel sind, dann ist das ein ungeheurer Skandal“, ruft vorne am Rednerpult die Bundeskanzlerin. „Jüdisches Leben ist Teil unserer Identität und Kultur“, sagt Angela Merkel. „Wer Leute mit Davidstern angreift, der schlägt uns alle. Wer Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen schändet, schändet unsere Kultur.“ Merkels Sätze sind wie Paukenschläge. Klarer und entschiedener kann man es nicht sagen. „Wer legitime Kritik am politischen Handeln Israels nutzt, um Hass auf andere Menschen zu verbreiten, missbraucht unser Grundrecht auf Meinungsfreiheit.“ Vor ihr sitzen das halbe Kabinett und die Fraktionschefs aller Parteien. Auch Bundespräsident Joachim Gauck ist gekommen. Die obersten Vertreter der beiden Kirchen verurteilen Antisemitismus ebenfalls aufs Schärfste. „Lassen wir nicht die Scharlatane, die Hass schüren und Lügen verbreiten, 70 Jahre guter Arbeit zunichtemachen“, mahnt der Präsident des World Jewish Congress. Deutschland habe sich doch zu einem der „verantwortungsvollsten Länder der Welt entwickelt“.

Mike Delberg hat sich zum ersten Mal während der Beschneidungsdebatte vor zwei Jahren gefragt, ob er seine Religion auch in Zukunft in Deutschland werde frei ausleben dürfen. Zum ersten Mal verstand er, was seine Eltern meinten, wenn sie sagten, wie wichtig Israel sei, denn man wisse ja nie, ob man nicht doch irgendwann mal wieder eine Zuflucht brauche. In Leserbriefen und im Internet wurden Juden 2012 als „Barbaren“ und „Kinderquäler“ beschimpft. „Die Debatte hat Narben hinterlassen“, sagt Mike Delberg.

„Unser Land ist für alle da, unabhängig von der Hautfarbe, der Religion und der Lebensweise“, spricht der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit jetzt vorne ins Mikrofon. „Lassen wir es nicht zu, dass das Gift des Hasses unsere Gesellschaft durchzieht.“

Seit Jahren engagiert sich Mike Delberg im interreligiösen Dialog und hat muslimische Freunde. Doch der Gaza-Krieg hat tiefe Risse hinterlassen. Muslime, die er für seine Freunde gehalten habe, hätten auf Facebook Landkarten gepostet, auf denen Israel nicht mehr zu sehen war, erzählt Delberg. Sachliche Diskussionen waren nicht mehr möglich. Wenn er an ihre Solidarität appellierte, darum bat, zwischen der Politik Israels und ihm, dem Juden hier in Berlin, zu unterscheiden, bekam er zu hören, er solle hinschauen, welche Verbrechen Israel verübe.

Auch Nasreen Hajjaj, 21, Politikstudentin, Tochter palästinensischer Eltern, ist zum Brandenburger Tor gekommen. Sie versucht, was Mike Delberg fordert: zwischen Israelis und Juden in Deutschland zu differenzieren. Es fällt ihr nicht leicht. „Es entspricht nicht dem Islam, Menschen zu diffamieren, weil sie einer anderen Religion angehören“, sagt sie. Sie ist an diesem Sonntag gekommen, um das zu zeigen und gegen Judenhass zu demonstrieren. Das soll aber nicht so gedeutet werden, dass sie irgendwie mit der israelischen Politik einverstanden ist.

Auch Nasreen Hajjaj engagiert sich im interreligiösen Dialog. Doch seit dem Sommer könne sie mit jüdischen Freunden nur noch reden, wenn sie alle Politik aus den Gesprächen ausklammern. „Wir kommen aus so unterschiedlichen emotionalen Hintergründen“, sagt sie. Doch antijüdische Hetze auf Demonstrationen geht ihr zu weit.

„Wir sind selbstbewusste Juden. Niemals wird es gelingen, uns zu brechen“, hat Dieter Graumann zuvor gesagt. Und ja, man werde auch weiter zu Israel stehen. „Wir wissen ja nicht, wie sich die Situation in Europa für Juden in den kommenden Jahren entwickelt“, sagt auch Mike Delberg.

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