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Landeshauptstadt: Auf unterirdischen Wegen zur Macht

Seit einem Jahr und ein paar Monaten sitzt die Potsdamerin Andrea Wicklein im Bundestag – und fühlt sich dort manchmal ein wenig einsam

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Seit einem Jahr und ein paar Monaten sitzt die Potsdamerin Andrea Wicklein im Bundestag – und fühlt sich dort manchmal ein wenig einsam Von Sabine Schicketanz Am Tor hat sie nicht gerüttelt. Auch nicht laut gesagt, sie will hier rein. Nur gedacht hat das Andrea Wicklein, als sie an einem lauen Sommerabend im Jahr 1999 mit Freunden auf der Dachterrasse des Reichstages saß, die Symphonie der Kräne rundum betrachtete und im Glas der Sekt prickelte. Seit einem Jahr und ein paar Monaten ist sie nun drin. Für besinnliche Stunden mit Blick auf Berlin war seitdem keine Zeit. Der graue Dezembermorgen ist Wickleins Premiere, als Abgeordnete des Deutschen Bundestags hat sie noch nie auf der Dachterrasse gesessen. Wann auch in einer Legislaturperiode, die selbst erfahrene Abgeordnete als Ausnahme bezeichnen. „Große Aufgaben“ nennt Wicklein das, was die rot-grüne Bundesregierung aus ihrer Sicht begonnen hat: den Umbau des Sozialstaates. Große Aufgaben, die Kraft kosten, die eine „allgemeine Verunsicherung“ bei den Bürgern hervorrufen. „Die Veränderungen sind sehr komplex“, sagt Wicklein. „Aber wir müssen zum Ende kommen und sagen, wo wir hin wollen.“ Die Diskussionen auch innerhalb ihrer Partei, der SPD, sieht sie als Spiegelbild der Gesellschaft. Mit der Agenda 2010 habe man sich Ziele gesetzt, Ende nächsten Jahres, so hofft sie, werde mit dem neuen Grundsatzprogramm auch eine Richtschnur für die Sozialdemokratie verabschiedet. „Es gibt nichts Fertiges mehr, dazu ist die Zeit zu schnelllebig.“ Werde von der Bevölkerung Flexibilität verlangt, müsse das auch für die Partei gelten. Die Routine hat sich Andrea Wicklein mittlerweile antrainiert, wenn es um politische Äußerungen geht. Dennoch, auf Bundesebene etwas zu bewegen, in der Masse der Abgeordneten Gehör zu finden, sei ein „härterer Kampf“. Nach langen Tagen ohne frische Luft – alle Abgeordnetenwege vom Reichstag zum Paul-Löbe-Haus mit seinen Sitzungssälen und den Büros im Jakob-Kaiser-Haus sind unterirdisch – fühle sie sich „manchmal ein bisschen einsam“. In ihr kleines Reich, das Drei-Raum-Büro, in dem es ein wenig aussieht wie im Hotel und sich im Schrank ein Waschbecken versteckt, schafft sie zwischen Hin- und Rückfahrt per Regionalbahn es meist nur einmal am Tag. „Man hat kaum Freiräume, das Zwischenmenschliche kommt viel zu kurz.“ Ernüchterung, sagt Wicklein, verspüre sie aber nicht. „Im Gegenteil, wenn man will, kann man auch hier Akzente setzen.“ Ein „dickeres Fell, kein ganz dickes“ sei dazu nötig, eines, das nicht die Sensibilität gleich mit abdeckt. „Wenn man als Politiker die Leidenschaft verliert, sich für andere einzusetzen, sollte man aufhören.“ Eine Gefahr, im hohen Haus den Boden unter den Füßen zu verlieren, empfindet die 45-Jährige nicht. Wenn man ihr beim Babelsberger Ortsverein unter dem Motto „jetzt sage ich hier unten dir da oben mal, was wirklich los ist“ begegne, dann werde sie „richtig sauer“, sagt die Abgeordnete. „Ich bin auch mitten im Leben.“ Die Wahlkreisarbeit sei ihre „Kraftquelle“, dabei könne sie konkret helfen – und aufklären. Schließlich sei die Liste der Vorurteile gegenüber Politikern nicht gerade kurz. „Das kann nur jeder für sich ändern, der Bürger differenziert nicht mehr.“ Immer nur Politikerin zu sein, immer alle Probleme „auf den Tisch gepackt“ zu bekommen, ist das, was Andrea Wicklein wohl am meisten belastet. Selbst bei einem Familientreffen, für das eigentlich vereinbart war, die Politik auszuklammern, ließ sie sich nicht ausblenden. „Meine Familie ist schon stolz, dass ich es geschafft habe. Aber wenn es Kritik an der Politik gibt, habe ich oft das Gefühl, sie richte sich gegen mich.“ Daher rührt auch das Verlangen, „mich am liebsten einigeln zu wollen, wenn ich mal Zeit habe“. Wer Politik macht, werde dafür immer zur Verantwortung gezogen. „Aber ich habe mich schon bei dem Gedanken ertappt: Wenn du so weiter machst, gibt es bald nur noch den Beruf.“ Das, sagt Wicklein, sei die eigentliche Gefahr. „Ich muss wohl lernen, die Dinge nicht so persönlich zu nehmen.“ Dagegen stört es sie nicht, wenn es in der Kommunalpolitik ganz persönlich zu geht. Morgen wird die Bundestagsabgeordnete ihren Platz in der neu gewählten Potsdamer Stadtverordnetenversammlung einnehmen – eine zusätzliche Verpflichtung, für die sie sich aber freiwillig entschieden hat. Zwangsrekrutiert habe die SPD sie nicht, doch „in einer für die Partei schwierigen Situation sollte man seinen Namen und Bekanntheitsgrad nutzen und auch Verantwortung übernehmen“. Nach der Wahl das Mandat weiterzugeben, wie jüngst bei anderen Stadtverordneten geschehen, käme ihr nicht in den Sinn, meint die studierte Diplom-Ökonomin. „Das ist nicht fair, später einfach April, April zu sagen, und trägt zur Politikverdrossenheit bei.“ Sie habe sich die Kandidatur „reiflich überlegt“ und werde nun den Terminplan auf die Arbeit als Stadtverordnete abstimmen. „Außerdem ist das eine sinnvolle Kombination, die Verzahnung zwischen Bund und Kommune ist eng, es gibt unmittelbare Zusammenhänge wie bei der Gemeindefinanzreform.“ Zudem müsse man die Kommunalpolitik als „konkreteste Politikebene, für dem Bürger am spürbarsten“ sehen und dürfe sie nicht unterschätzen. „Das ist eine ernsthafte Aufgabe.“ Auch von der anderen Seite gesehen sei es für sie wichtig, Kommunalpolitik zu machen. „Die Kenntnisse von dort kann ich im Bundestag gut gebrauchen.“ Ein Stück Selbstbestätigung ist im Stadtparlament wohl darüber hinaus zu holen. Sitzen in Potsdam elf SPD-Stadtverordnete, sind es in Berlin 251 SPD-Abgeordnete. „Das fühlt sich ganz anders an, bei den wenigen kann keiner abtauchen.“ Mit dem Reiz, wie in Berlin der Macht ganz nah zu sein, kann die Landeshauptstadt allerdings nicht wirklich dienen. „Obwohl ich sie auch hier nur selten spüre“, sagt Wicklein. An einem Freitag vor ein paar Wochen aber sei sie greifbar gewesen. „Wir hatten an diesem Tag fünf oder sechs namentliche Abstimmungen, haben Gesetze auf den Weg gebracht, die tatsächlich jeden betreffen.“ Erst spät am Tag habe sie Zeit gefunden, das zu reflektieren: „Mein lieber Scholli, jetzt sitzt du da und gestaltest Deutschland mit, habe ich gedacht.“ Ihr sei klar geworden, wie viel Macht sie tatsächlich habe. „Aber Macht ist vor allem Verantwortung. Deshalb konnte ich an diesem Abend nicht gut einschlafen.“

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