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Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Uni Potsdam diskutierte in Polen über Gemeinschaftlichkeit
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Am Anfang stand eine Zugfahrt im „Studentenexpress“, dem Regionalexpress der Linie 1. Seit zehn Jahren sind alle Potsdamer Universitätsstandorte an das Bahnnetz angeschlossen. So sind auch die Universitäten in Potsdam, Berlin und Frankfurt (Oder) näher aneinander gerückt. Jüngst machte sich eine Gruppe der Uni Potsdam auf den Weg nach Polen. Die Potsdamer Literaturwissenschaftlerin Brigitte Sändig und ihre Kollegin von der Frankfurter „Viadrina“, Christa Ebert, hatten zu einer gemeinsamen Tagung ins polnische Slubice eingeladen. Forscher aus Deutschland, Polen und Frankreich tauschten sich auf der anderen Oderseite über „Ideen/Bilder von Gemeinschaftlichkeit in Ost und West“ aus.
Die Vorträge erkundeten das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft. Film und Literatur, aber auch politische Utopien und nationale Selbstbilder wie die „russische Seele“ kamen zur Sprache. Zwischen westlichen Gesellschaften, Polen und Russland bestünden hinsichtlich der „Gemeinschaftsidee“ Unterschiede, urteilten die Wissenschaftler einhellig. Die Bandbreite möglicher Vorstellungen erstrecke sich von der „selbstbewussten Betonung des Ich“ bis zum „Zwang zum Wir“, so Brigitte Sändig. Während westliche Gesellschaften eher den Individualismus gefördert hätten, seien in osteuropäischen Ländern Gemeinschaftsideen prägend gewesen.
Die polnische Kulturwissenschaftlerin Bozena Choluj machte aber auf eine bemerkenswerte Tatsache aufmerksam. Wie sie zeigte, findet man eine erste Formulierung des Europa-Gedankens in der deutschen Romantik. So publizierte der Romantiker Friedrich Schlegel im Jahr 1803 eine Zeitschrift namens „Europa“. Die damals so beliebte Reiseliteratur habe den Wunsch nach einer Gemeinschaft jenseits nationaler Grenzen ausgedrückt, so Choluj. Heute spreche man in diesem Sinne von einem „Europa der Regionen“. „Einheit, Grenzenlosigkeit und Friede“ seien aber schon Schlüsselbegriffe politischer und religiöser Utopien in der Romantik gewesen. Die Texte der Romantiker hätten gerade in Polen eine große Wirkung entfaltet.
Spätere Vorträge zeigten, dass sich Gemeinschaftsvorstellungen in Polen und Russland oft gegen den Westen richten. Dennoch beruhen sie auch auf der deutschen Romantik und der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Ost und West waren also nie so klar getrennt, wie es lange schien. So verwies Christa Ebert darauf, dass jüngste Ereignisse wie die Papstwahl und die Fußball-WM auch im Westen zu einer Renaissance der Gemeinschaftsidee geführt hätten. Umgekehrt stünde materieller Wohlstand heute an Platz eins der Werteskala der russischen Bevölkerung, ergänzte Jutta Scherrer aus Paris.
Die Tagung fand im „Collegium Polonicum“ statt, einem interdisziplinären Forschungszentrum in Slubice. Das 2001 eingeweihte Gebäude liegt an einer Biegung der Oder, mit Blick auf Frankfurt. Seit 2002 regelt ein Vertrag zwischen dem Land Brandenburg und Polen die Finanzierung des „Collegiums“. Brigitte Sändig hatte diesen Ort für die Tagung angeregt. Nicht nur die geographische, auch die intellektuelle Perspektive sollte gewechselt werden. Dass das „Collegium Polonicum“ selbst ein Beispiel für gelungene Gemeinschaftlichkeit ist, zeigte sich beim Mittagessen. Die Mensa des „Collegiums“, in der deutsche und polnische Studenten gemeinsam essen, trägt den schönen Namen „Café Europa“. Mark Minnes
Mark Minnes
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