Von Jana Haase: „Brandenburg ist Schlusslicht bei DDR-Aufarbeitung“
Gut 2100 Menschen aus Potsdam und Umgebung beziehen „Stasi-Opferrente“ / Mario Röllig, Darsteller im Theaterstück „Staats-Sicherheiten“, berät Stasi-Opfer
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Die Erinnerung überfällt ihn schlagartig. Mal ist es ein Auto mit Zweitaktmotor auf der Straße, das seine Beine weich werden lässt. Dann wieder ein Klingeln an der Wohnungstür: „Bei unangemeldetem Besuch bekomme ich Herzrasen, kann die Tür nicht öffnen“, erzählt Mario Röllig. Manchmal wacht er nachts auf und dreht sich in panischer Angst auf den Rücken, legt die Hände auf die Bettdecke. Erst dann fällt ihm ein, dass die Zeit im Stasi-Knast ja längst vorbei ist. Mehr als 20 Jahre ist es her, dass Mario Röllig, damals selbst keine 20 Jahre alt, drei Monate in Hohenschönhausen einsitzen musste, weil er seinen Westberliner Freund nicht bespitzeln wollte. Am morgigen Sonntag steht der 41-Jährige wieder auf der Bühne des Hans Otto Theaters (HOT) und berichtet als einer von 15 Darstellern im Stück „Staats-Sicherheiten“ von seiner Verfolgungs-Geschichte.
Wegen des großen Publikumszuspruchs hat das HOT bereits einen Zusatz-Termin am 3. Dezember geplant. Auch der ZDF-Theaterkanal habe Interesse an der Produktion signalisiert, wie Dieter Wiedemann, Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF), den PNN sagte. Demnach sollen HFF-Studenten das Stück im Hochschul-Studio fürs Fernsehen filmen.
Das Interesse an dem Theaterstück empfindet Mario Röllig als befreiend: „Vorher wollte eigentlich niemand die Details hören“, sagt Röllig. Nicht einmal mit seinen Eltern habe er über die Zeit sprechen können. Dass es vielen Stasi-Opfern ähnlich geht, weiß Röllig aus seiner ehrenamtlichen Arbeit beim Verein der Opfer des Stalinismus, Gemeinschaft ehemaliger politischer Häftlinge (VOS). Mit deutschlandweit 3000 Mitgliedern ist der VOS laut Röllig der bundesweit größte Verein für Stasi-Opfer. Röllig ist Vorsitzender des Landesverbandes Berlin/Brandenburg.
In seinem Büro im „Deutschlandhaus“ nahe des Potsdamer Platzes in Berlin melden sich jeden Tag mindestens drei Menschen, erzählt Röllig. Zusammen mit zwei weiteren Kollegen berät er Stasi-Opfer, die bei den Versorgungsämtern um die Anerkennung von „Haft-Haftfolgeschäden“ kämpfen, oder einen Antrag auf die 2007 vom Bundestag beschlossene „Stasi-Opferrente“ stellen wollen. Manchmal, erzählt Röllig, wollen die Menschen aber auch einfach nur reden. Dann hört er zu. „Das ist ganz wichtig“, sagt Röllig.
Auch Potsdamer melden sich bei ihm in Berlin. Denn in der Landeshauptstadt selbst gebe es ein vergleichbares Angebot nicht, erklärt Röllig. Auch die Unterstützung vom Land falle in Brandenburg dürftig aus: Während der Berliner Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen pro Jahr 40 000 Euro an den VOS zahle, gibt es vom Brandenburger Landesamt für Versorgung lediglich 1200 Euro, so Röllig. „Brandenburg ist bei der Aufarbeitung von DDR-Geschichte bundesweit Schlusslicht“, findet er. Es ist das einzige ostdeutsche Bundesland, in dem es keinen Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen gibt. Dass auch die Potsdamer Außenstelle für Stasi-Unterlagen Anfang 2009 nach Berlin umziehen soll, wird in Kreisen der Stasi-Opfer kritisch gesehen. Röllig weiß, wie viele darüber denken: „Hier sind die alten Kräfte noch tätig.“
Auf das Auftauchen von alten Seilschaften hatte sich auch das Theater-Team bei der Premiere von „Staats-Sicherheiten“ gefasst gemacht. „Es gab einen Plan B“, berichtet Mario Röllig. Es blieb jedoch ruhig. Nur bei der Generalprobe hätten „ältere Herren“ im Publikum gesessen und sich halblaut über die „Verunglimpfung“ der DDR empört, sagt Röllig.
Wie viele Ex-Stasi-Leute heute in Potsdam eine Rente beziehen, kann bei der Deutschen Rentenversicherung Bund niemand ausrechnen. Mehr als 3000 Mitarbeiter hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der Bezirkshauptstadt, sagt Gisela Rüdiger, die Leiterin der Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde in der Großbeerenstraße. Die Zahl sei in Potsdam besonders hoch gewesen, auch wegen der „Juristischen Hochschule“ in Golm, der Stasi-Kaderschmiede.
Auch die Zahl der Opfer bleibt vage: 3401 Anträge auf „Opferrente“ sind seit 2007 beim Potsdamer Landgericht eingegangen, wie Gerichtssprecher Frank Tiemann gestern sagte. In 2146 Fällen sei der Renten-Zuschuss von maximal 250 Euro bewilligt worden, 857 Fälle wurden „anderweitig erledigt“ und 398 Potsdamer warten noch auf eine Gerichtsentscheidung. Voraussetzung für die Rente ist ein Gefängnisaufenthalt von mindestens sechs Monaten. Bei Arbeitnehmern wird die Rente nur im Bedarfsfall ausgezahlt: Die Einkommensgrenze liege für Alleinstehende bei 1044 Euro, erklärt Röllig. Er selbst hat keinen Anspruch. Denn obwohl er zwei Jahre verfolgt wurde, saß er „nur“ drei Monate in Haft.
Arbeiten kann Röllig heute trotzdem nicht, er ist erwerbsunfähig. Seit er 1999 seinen Stasi-Vernehmer zufällig in einem Kaufhaus wiedertraf, leidet er unter gesundheitlichen Problemen. Auf die Frage, ob er sich nicht wenigstens entschuldigen wolle, habe der Ex-Stasi-Mann damals geantwortet: „Wofür denn, Sie waren doch ein Verbrecher.“ Röllig erlitt einen Zusammenbruch, von dem er sich bis heute nicht richtig erholt hat. „Es ist wie in der Achterbahn“, sagt er.
Kontakt zum VOS-Landesverband unter Tel.: 030 25 46 26 38.
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