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Homepage: Brauchbare Vergangenheit konstruiert

Über den Umgang des heutigen Russlands mit seiner Geschichte / Mythenbildung und Verklärung

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Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte in Russland war durch „ Perestrojka“ und „Glasnost“ möglich geworden. Doch findet sie heute noch auf zwei völlig konträren Ebenen statt. Unabhängige Historiker arbeiten heute in Russland an einem faktentreue Geschichtsbild, berichtete die Historikerin Jutta Scherrer (Berlin) am Wochenende auf einer Konferenz des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. „Doch schaut man in die offiziellen Geschichtsbücher, so ergeben sich weiße Flecken.“ Das offizielle Geschichtsbild versuche, ein brauchbare Vergangenheit zu konstruieren.

„Mit den Worten Kommunismus und Sozialismus wird in den Geschichtsbüchern sparsam umgegangen, in manchen findet man sie gar nicht“, berichtet die Expertin für russische Zeitgeschichte. Zu beobachten sei eine Mythenbildung, die die Zeit vor der Oktoberrevolution verklärt und beschönigt. Scherrer spricht von einer Verzerrung des Geschichtsbildes, das die Historie des Vielvölkerstaates Sowjetunion ausschließe. „Es geht nur noch um die Wiedergeburt Russlands.“ Die ehemaligen Lehrer von Marxismus und Leninismus hätten heute oft einfach einen Schwenk zur Kulturgeschichte vollzogen, der dort ansetzt, wo das zaristische Zeitalter endete. Einige Museen würden sogar die Rolle der Weißgardisten soweit verklären, dass man meinen könnte, sie seien erfolgreich aus der Auseinandersetzung mit den Rotgardisten hervorgegangen. Der Sowjetzeit werde jegliche Kulturgeschichte abgesprochen: „Über diese Zeit wird ein Deckmantel gebreitet.“

Die Geschichtsschreibung werde von offizieller Seite auf Werte beschränkt, die in Russland von Anfang an vorzufinden waren. Etwa die Orthodoxie, die Gemeinsamkeit, Solidarität und Spiritualität in den Vordergrund rücke. Heute stehe die orthodoxe Kirche als einzige Institution, die es schon vor der Revolution gab, im Mittelpunkt der Identitätsfindung in Russland. Dabei wende sie sich offen gegen den Westen. Es heiße, dass westliche Werte und liberale Einflüsse die Eigenständigkeit Russlands bedrohen.

Doch Russlands Suche nach der eigenen Identität wiegt für Jutta Scherrer kaum schwerer als ähnliche Prozesse in anderen Ländern. „Dies ist ein nahezu normaler Prozess“, sagt sie. Gerade in einem Land, das mit dem Verlust der Rolle als Weltmacht konfrontiert sei. Und: „Auch wir haben unsere weißen Flecken“. Sie empfehle daher, den Prozess in Russland in einer vergleichenden Perspektive zu betrachten. So nennt sie etwa Frankreich, das derzeit in einer ähnlichen Identitätskrise stecke. Allerdings, und das betont die Russland-Kennerin besonders, fehle die Dimension der Verantwortung in der nach wie vor staatlich gelenkten Geschichtspolitik Russlands vollkommen. Political Correctness sei ein Fremdwort. Die Bevölkerung wiederum zeige kaum Widerstand gegen diese Entwicklung.

An diesem Punkt wollte ZZF-Direktor Martin Sabrow dann doch noch eine Bemerkung einflechten. Nämlich, dass staatliche Einflussnahme auf Geschichtsschreibung heute in Deutschland der Vergangenheit angehöre. Das hätten jüngst die Gestaltung der Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum oder auch die Arbeit der Historikerkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gezeigt, der Sabrow selbst vorsteht. „Umso ungenierter wollen allerdings heute in Deutschland gesellschaftliche Gruppen Einfluss auf die Erinnerungskultur nehmen“, sagte der ZZF-Direktor. Jan Kixmüller

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