Landeshauptstadt: Chiffren des Alltags
Ein Londoner Künstler-Team arbeitete eine Woche mit Lochkameras und Negativen an der Potsdamer Schule für Gehörgeschädigte
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Abschiedsstimmung. Geschenke, Dank, Umarmungen, Reden. Es ist das ungewöhnliche Ende einer ungewöhnlichen Schulwoche. Verabschiedet werden die Gast-Lehrer, sie kehren zurück nach London. Das Klassenzimmer in der Wilhelm-von-Türk-Schule ist voll, dicht gedrängt stehen Lehrer, Schüler und Gäste. Den Rednern, neun Schüler der 9. Klasse, ist anzusehen, dass sie mit so vielen Besuchern nicht gerechnet haben. So viel Öffentlichkeit sind sie nicht gewohnt. In kurzen Vorträgen, teils in Gebärdensprache, erklären sie dem Publikum, was sie in der vergangenen Woche gelernt haben. Nicht von mathematischen Formeln, Grammatikregeln oder Vokabeln erzählen sie. Sondern von Lochkameras, Negativen und Entwicklungsprozessen.
Schule im Ausnahmezustand. Eine Woche lang stand für die 9 II der Schule für Gehörgeschädigte nur Fotografie auf dem Lehrplan, unterrichtet von einem Londoner Künstler-Team. Nur Fotografie? Schulleiterin Uta Kapp sieht das anders: „Das berührt doch alle Fächer. Von der Physik über das Handwerkliche bis zur Kunst. Und sogar Englisch!“ Als Stefan Horn seine Idee von „Signs of the City“ an sie herantrug, habe sie keinen Augenblick gezögert. „Signs of the City“ ist ein Kunstprojekt, das europäische Städte von Innen heraus porträtieren will, durch Alltags-Fotos von Jugendlichen. Durch insgesamt 35 Workshops in London, Berlin, Barcelona und Sofia bringt Stefan Horn Künstler und Jugendliche zusammen. Für das Londoner Künstlerduo Campbell Works, das im Rahmen von „Signs of the City“ ein Projekt mit Hörgeschädigten vorgeschlagen hatte, machte Horn die Wilhelm von Türk-Schule ausfindig. Eigentlich sollte es eine Berliner Schule sein, doch dort zierte man sich.
Der Kontakt zwischen Schülern und Künstlern begann bereits im Februar. Damals kamen Campbell Works zum ersten Mal nach Potsdam, man lernte sich kennen, tauschte Fotos und E-Mails aus. Eine gute Basis für die Zusammenarbeit war Harriet Murray und Neil Taylor wichtig. Nur fünf Tage hatten die Künstler für ihre Arbeit mit den Potsdamer Schülern. Dazu die Kommunikationshürde: Jeder Arbeitsschritt wurde aus dem Englischen in die deutsche Gebärdensprache übersetzt. Ein nicht nur schwieriger, sondern vor allem sehr bereichernder Prozess, findet Neil Taylor. „Das Faszinierende ist, dass Sprache sich auf das Wesentliche, die Arbeit, beschränken musste. Fast alles andere kann man auch non-verbal kommunizieren, durch Augenkontakt und Körperhaltung.“ Er habe dabei mindestens so viel gelernt wie die Schüler, sagt er zum Abschied.
Die Mehrheit der Schüler hatte noch nie eine Kamera bedient, geschweige denn Fotos selbst entwickelt. Die Künstler ließen sie Lochkameras aus Pappe bauen, schickten sie auf Motivsuche und zeigten ihnen in einem eigens dafür aufgebauten Dunkelkammerzelt, wie man die Negative entwickelt. Inhaltlich hielten sich die Künstler zurück. Nicht um die künstlerische Handschrift von Campbell Works ging es, sondern um die individuelle Bildsprache der Jugendlichen. „Eigentlich haben wir ihnen nur die Technik gezeigt und sie dann machen lassen,“ erzählt Neil. „Motive muss man nicht erklären“.
In der Tat: Die Bilder erzählen ihre eigenen Geschichten. Und ein bisschen auch die der Fotografen. Im Internet (www.citipix.net ) kann man sie bestaunen, diese eingefrorenen Chiffren des Alltags. Einige bunt und digital, andere eindrücklich in schwarzweiß, fast mahnend. Der Plattenbau des Schulgebäudes ist da, ein Treppengeländer, die Tischtennisplatte im Hof, der Spielplatz, das Graffiti auf der Turnhalle, ein Basketballkorb. Manchmal, seltener, auch Menschen. Stolz zeigt der 15-jährige Sebastian seine Selbstporträts: als Schatten auf den Stufen des Schulgebäudes oder im Profil, die Finger zum Victory-Zeichen gespreizt. Woran er sich wohl erinnert, wenn er an die Woche mit den Künstlern aus England zurückdenkt? „Dass ich Fotograf werden will. Wie Neil.“ Seine erste Ausstellung hat er schon. Ab Ende September werden im Berliner Haus der Kulturen der Welt neben „Signs of the City“ – Bildern aus London, Barcelona, Sofia und Berlin auch welche aus Potsdam zu sehen sein.
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