Landeshauptstadt: Das Fanal von Babelsberg
Heute vor 25 Jahren erreichte die Leipziger Protestbewegung gegen das DDR-Regime auch Potsdam: Als sich hier zum ersten Mal das Neue Forum vorstellte, kamen Tausende auf den Weberplatz und in die Friedrichskirche. Ob der Abend friedlich ausgehen würde, konnte niemand vorhersagen
Stand:
Als das Pfarrerehepaar Flade am Abend des 4. Oktober 1989 die letzten Besucher der Friedrichskirche in die Babelsberger Nacht verabschiedet, hat sich in den umliegenden Stadtvierteln bereits die Nachricht verbreitet, dass am Weberplatz etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Zum ersten Mal hatte sich das verbotene Neue Forum in der Bezirksstadt vorgestellt und dabei so viele Menschen mobilisiert, dass Polizei und Stasi es vorzogen, nicht einzugreifen. Dreitausend waren gekommen – zehnmal mehr als die Veranstalter erwartet hatten. Der Ansturm war so groß, dass man die Veranstaltung dreimal an dem Abend wiederholen musste.
Auch SED-Informant Müller, der im Auftrag der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirkes berichten sollte, gelangte erst im letzten Anlauf ins Innere der Kirche. Die Atmosphäre war angespannt. Allerdings löste sich die Anspannung immer wieder in befreiendem Beifall, etwa als der Gründungsaufruf „Aufbruch 89“ verlesen wurde oder Reinhard Meinel (neben Rudolf Tschäpe der zweite Potsdamer Erstunterzeichner des Aufrufs) erklärte, man lasse sich als Bürgerbewegung, die verfassungsmäßige Rechte wahrnehme, nicht kriminalisieren und in den Untergrund drängen. Die Leipziger Protestbewegung gegen das SED-Regime, die seit einem Monat das Land in Atem hielt, hatte Potsdam erreicht.
Genau wie anderswo trafen auch hier die Bürgerrechtler einen Nerv. Das Bedürfnis nach öffentlicher Diskussion war gewaltig in der krisengeschüttelten DDR, deren Bürger inzwischen zu Zehntausenden das Land gen Westen verließen. Die dramatischen Botschaftsbesetzungen in Prag oder Warschau waren zu einem weltöffentlichen Medienereignis geworden. Dennoch lehnte die überalterte SED-Führung jede Reformdebatte und Dialogpolitik ab und setzte stattdessen auf altbewährte Mittel: zynische Propaganda, Zensur und Repression.
Noch am 21. September waren die Anträge auf Zulassung des Neuen Forums in allen Bezirken gleichlautend abgelehnt worden. Zur Begründung hieß es in den Staatsmedien, es handle sich beim Forum um eine „staatsfeindliche Plattform“ und es bestehe kein gesellschaftlicher Bedarf. Bürgerrechtler und Besucher des Weberplatzes am Abend des 4. Oktober mussten also mit härtesten Konsequenzen rechnen. Immerhin lag die Billigung der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung durch die SED-Spitze erst wenige Monate zurück, und mit den Regierungen im (noch) friedhofsstillen Rumänien, Bulgarien und der CSSR demonstrierte Ost-Berlin Schulterschluss. Noch war die politische Situation im Inneren völlig offen. Die Massenprotestbewegung befand sich erst am Anfang. Zwar hatte die Zahl der Leipziger Montagsdemonstranten zwei Tage zuvor erstmals den fünfstelligen Bereich erreicht, doch immer wieder kam es zu Verhaftungen und Polizeigewalt. Wie schnell die Situation eskalieren konnte, zeigten die Vorgänge in Dresden, wo sich am selben Abend Polizei und frustrierte Ausreisewillige vor dem Hauptbahnhof Straßenschlachten lieferten und über tausend Festnahmen erfolgten.
Insofern konnte in Potsdam niemand vorhersagen, ob der Abend in der Friedrichskirche friedlich ausgehen würde. Daran, dass die Staatsmacht vor Ort war, zweifelte kaum jemand. Als Pfarrer Flade auch den draußen geduldig Wartenden den „Aufbruch 89“ verlas, brandete immer wieder Applaus auf. „Es waren die Stellen in der Mitte des Textes, wo von Bütteln und Spitzeln die Rede ist und von der Vertreibung von Faulpelzen und Maulhelden aus ihren Druckposten“, gab SED-Informant Müller zu Protokoll.
Tatsächlich hatten die SED und das MfS Dutzende Agitatoren und Mitarbeiter zum Weberplatz geschickt. Doch die Menge war in erster Linie gekommen, um zuzuhören. Man ließ sich nicht provozieren, weder von Fotografierenden noch von „Bürgern“, die sich lauthals über die Organisation beschwerten. Auch auf das Skandieren politischer Losungen verzichtete man. Nachdem Kontaktadressen und nächste Veranstaltungstermine bekannt gegeben worden waren, folgten die Menschen geradezu diszipliniert der eindringlichen Bitte des oppositionellen Gemeindepädagogen Hans-Georg Baaske, auch auf dem Heimweg alles zu vermeiden, was staatliches Einschreiten hätte hervorrufen können.
Es war also weniger dem guten Willen der Funktionäre oder Offiziere zu verdanken, als vielmehr dem besonnenen Auftreten der vielen Teilnehmer, dass die in den Nebenstraßen zusammengezogenen „hoch motivierten“ Einsatzkräfte der 9. VP-Kompanie beziehungsweise der 3. und 20. VP-Bereitschaft unter Leitung von SED-Kreischef Heinz Vietze nicht zum Einsatz kamen. Sie hatten Anweisung, dann einzugreifen, wenn größere Demonstrationszüge das Babelsberger Oberlinhaus in der Rudolf-Breitscheid-Straße erreichen würden – in den Worten des Potsdamer MfS-Bezirkschefs Schickart: „Verstärkte Sicherung und Kontrolle von stattfindenden Veranstaltungen, um mögliche Protestaktionen, Provokationen vorbeugend zu verhindern bzw. zu unterbinden.“ Die friedlichen Bürger ließen es dazu jedoch nicht kommen.
Mit dem 4. Oktober reihte sich Potsdam revolutionsgeschichtlich ein in die Gruppe wichtiger Orte, die landesweit eine Schrittmacherfunktion für die Entwicklung der Massenprotestbewegung übernahmen. In den darauffolgenden drei Wochen trugen sich über zweitausend Potsdamer in die Listen des Neuen Forums ein, weitere Bürgerbewegungen gründeten sich. Zweifellos war dies das Verdienst weniger unerschrockener und erprobter Oppositioneller. Doch ohne massenhaften Zuspruch hätte sich der revolutionäre Funke nicht entzünden können. Dass die isolierten Oppositionsaktivitäten ausgerechnet in Potsdam so früh in eine Massenprotestbewegung umschlugen, verblüffte die Machthaber, denn als Verwaltungs-, Kader- und Grenzstadt mit zahlreichen Institutionen und Militärstandorten erschien die Havelmetropole zunächst als eine stabile Herrschaftsbastion im Berliner Umland. Sie galt als sicherheitspolitisch ruhige Zone, genau wie die drei brandenburgischen Bezirke. Doch der Eindruck täuschte.
Das regimekritische Potenzial war weitaus höher, als Potsdams Ruf als „rote“ Bezirksstadt vermuten ließ. Der großen Anzahl staatsloyaler Eliten stand ein buntes Spektrum von gesellschaftlichen Gruppierungen gegenüber, die Distanz zum Regime hielten. Am deutlichsten artikulierten sich politisch-alternative Zirkel, die im Brandenburg-Vergleich in Potsdam besonders zahlreich waren. Mehr als zehn Oppositionsgruppen mit über hundertzwanzig Aktiven wirkten über die Stadt verteilt.
Wie sehr diese mobilisieren konnten, hatte schon das Pfingstbergfest am 10. Juni 1989 bewiesen. Mehr als 1500 Besucher waren gekommen, um etwas über Umweltschutz und alternative Stadtgestaltung beziehungsweise über ARGUS und die AG Pfingstberg zu erfahren. Neben den Oppositionsgruppen gab es aber auch noch andere Bevölkerungskreise, die den überzeugten Systemträgern gegenüberstanden. Dazu gehörten nicht zuletzt die 1600 Potsdamer Ausreise-Antragsteller. Sie blieben politisch zwar unorganisiert, hatten jedoch mit dem Staat und seinem System abgeschlossen und verschwiegen dies nicht.
Ein anderer Personenkreis bestand aus jungen Leuten beziehungsweise alternativ eingestellten Jugendlichen, die Stasi-Berichten zufolge besonders zahlreich in der Friedrichskirche vertreten waren. Gerade diese Altersgruppe hatte sich dem Sozialismus Honeckerscher Prägung tiefgehend entfremdet – auch ablesbar am großen Zulauf nonkonformer Jugendkulturen. In latenter Gegenöffentlichkeit bewegten sich auch viele Potsdamer Gemeindemitglieder beziehungsweise Kirchengänger. Zwar besuchte nur ein Bruchteil der rund 20 000 konfessionell Registrierten regelmäßig die Kirche, doch bei besonderen Anlässen vervielfachte sich die Zahl, wie der Besuch Helmut Schmidts in Potsdam 1986 zeigte. Die meisten Christen hatten sich arrangiert, dennoch hielt ein erkennbarer Rest bewusst Abstand zum kirchenfeindlichen System.
Schließlich existierte ein weiteres, freilich schwer fassbares Unruhemoment in unmittelbarer Nähe zur Macht: Jeder achte Potsdamer war SED-Mitglied. Unter ihnen sympathisierte so mancher mit Perestroika und Glasnost. Dass dies in Potsdam häufiger als anderswo der Fall war, lag am überdurchschnittlich hohen Anteil von Intellektuellen und Kulturschaffenden in der Kreisparteiorganisation. Gerade von ihnen hagelte es offene Kritik, als die SED-Führung im Oktober 1988 die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ verbot.
Zusammengenommen bildeten diese Gruppierungen einen empfänglichen Resonanzboden für Regimekritik. Seit 1988 nahm das konkrete Einüben von Widerspruch und das selbstbestimmte Handeln durch Oppositionelle, Andersdenkende, Unangepasste, aber auch unauffällig gebliebene Bürger immer mehr zu. Das wird an den subversiven Aktionsformen und vermehrten Veranstaltungen mit DDR-kritischen Themen deutlich, die unter dem weit verzweigten Dach der Potsdamer Kirche, im Rahmen des Kulturbundes oder in Kulturhäusern wie dem „Lindenpark“ organisiert wurden.
Einen frühen Höhepunkt des Aufbegehrens stellten zweifellos die Kommunalwahlen im Mai 1989 dar. Hunderte Eingaben, Tausende Nein-Stimmen sowie eine rege Überwachung der Stimmenauszählung hatten die alternative Wahlbewegung kurzzeitig zu einer regelrechten Massenbewegung anschwellen lassen, die die überschaubare Oppositionsszene an Größe deutlich überstieg. Der nachgewiesene Wahlbetrug wurde zu einem dauerhaft-überzeugenden, weil faktisch belegbaren Argument der Opposition gegen die SED-Herrschaft, sodass die Forderung nach freien Wahlen zu einer Hauptforderung der Herbstrevolution wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es im Rückblick weniger zufällig, dass der 4. Oktober maßgeblich von der oppositionellen Wahlbeobachtergruppe „Kontakte“ geplant worden war. Kurz darauf, am 7., 16., 18. und 21. Oktober, sorgten Tausende Ermutigte, angeführt von Bürgerrechtlern, mit Demonstrationen und Versammlungen dafür, dass Potsdam eine „Oktoberrevolution“ erlebte. Sie brachte die SED-Regionalmacht allmählich ins Wanken.
Höhepunkt dieser Politisierung vormals Unpolitischer war die Großdemonstration des Neuen Forums am 4. November mit mehreren Zehntausend Teilnehmern. Damit hatte sich binnen eines Monats eine fast selbstverständliche Demonstrationskultur herausgebildet, wie sie noch vor dem 4. Oktober als undenkbar galt. Das strahlte über die Stadtgrenzen hinaus.
Wie sehr, lässt sich aus den Vorfällen rund um den 40. Jahrestag der DDR ablesen. Während in Potsdam Hunderte Potsdamer den ersten Demonstrationszug wagten, an dessen Ende es zu einer Hetzjagd der Polizei auf die Teilnehmer kam, ereigneten sich bezirksweit mindestens 80 „Zwischenfälle“. Insofern besitzt der 4. Oktober als Tag des revolutionären Aufbruchs nicht nur eine stadt-, sondern auch eine regionalgeschichtliche Dimension.
Peter Ulrich Weiß ist Historiker an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Weiß stellt am 4. November um 18 Uhr in der Landeszentrale für politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107, Haus 17, sein Buch über den Umbruch in der Brandenburger Region vor, das er zusammen mit Jutta Braun herausgibt.
Zum 25. Jahrestag lädt die Friedrichskirche am heutigen Samstag zur Diskussionsrunde mit Zeitzeugen ein. Beginn ist 18 Uhr.
Peter Ulrich Weiß
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