Homepage: „Das hat der SED letztlich das Genick gebrochen“
Der Historiker Jens Gieseke über die Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR, ihre Überforderung und das Festhalten an überkommenen Befehlsstrukturen
Stand:
Herr Gieseke, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) war in der DDR allgegenwärtig. War sie auch allmächtig?
Die SED war für alles zuständig, zumindest hat sie sich so gesehen. Für einen Ersten Kreissekretär gab es keine Frage, für die er nicht verantwortlich war. Allerdings konnten nicht mehr, wie noch im Stalinismus, alle Fragen mit Repression gelöst werden. Das führte dazu, dass ein Kreissekretär zwischen verschiedenen Logiken hin- und herzuschalten hatte.
Zum Beispiel?
Er musste einerseits dafür sorgen, dass es im Kreis nicht zu Unruhen kam oder dass beispielsweise die Zahl der Ausreiseanträge nicht zu hoch wurde. Er musste auch entscheiden, was zu geschehen hat, wenn der örtliche Pfarrer zu aufmüpfig wurde. Zweitens musste er dafür sorgen, dass die SED ideologisch in der Öffentlichkeit immer die Oberhand behielt, und dass das verbreitete Weltbild nicht angekratzt wurde. Gleichzeitig musste er aber auch das Leben im Kreis am Laufen halten. Und das war gerade in den 1980er-Jahren die aufwendigste Aufgabe. Er musste dafür sorgen, dass die örtlichen Betriebe Investitionen erhielten und er musste sich um die Versorgung der Bevölkerung kümmern – etwa der Bau eines neuen Schwimmbades.
Über die SED ist wenig bekannt.
In der Forschung und öffentlichen Wahrnehmung besteht eine Schieflage, weil man sich in den vergangenen 20 Jahren sehr stark auf die Rolle der Staatssicherheit konzentriert hat. Darüber wissen wir fast alles, fast jeder Referatsleiter ist namentlich bekannt. Bei der SED sieht es ganz anders aus. Der Forschungsaufwand, der hier bisher betrieben wurde, ist erheblich geringer. Eine ähnlich genaue Analyse des Zentralkomitees, der Kreisleitungen und des ganzen Parteiapparates gibt es im Vergleich zur Stasi bisher nicht.
Warum wissen wir so wenig?
Ich bin kein Freund der häufig vertretenen These, dass die SED es 1989 geschafft hat, alle Aufmerksamkeit auf die Stasi zu lenken, um von sich abzulenken. Im Herbst 1989 hat niemand mehr auf die SED gehört. Die Staatssicherheit stand im Mittelpunkt, weil sie zuvor geheim war und die Bespitzelung viele Menschen im persönlichen Lebensumfeld betroffen hatte. Hinzu kommt bei der Stasi ein geregelter und sehr offenen Aktenzugang. Bei der SED wurden viele Parteiakten aus sensiblen Bereichen vernichtet. Ein klassisches Beispiel ist die Mitgliederkartei der SED, die 1990 absichtlich vernichtet wurde. Damit ist es heute viel schwieriger herauszufinden, wer eigentlich wirklich Mitglied in der Partei war und in welchem Kontext.
Wie kam es zu der Zerstörung der Mitgliederkartei?
Das ist nicht ganz geklärt. Aber es gab im Frühjahr 1990 eine Entscheidung der PDS, die Kartei für die Nachwelt nicht zu erhalten. Es sollte ein zweites Document Center wie nach der NS-Zeit verhindert werden, ehemalige Parteizugehörigkeit sollte nicht feststellbar sein.
Wird die Rolle der SED unterschätzt? Ohne sie hätte es keine Stasi gegeben.
Klar. Die letzte Entscheidung für die großen Linien lag bei Parteistellen. Im wichtigsten Feld, auf dem die SED ihre Macht gesichert hat, dem Grenzregime, lag die Entscheidung über den Schießbefehl beim Generalsekretär. Im April 1989 war es Erich Honecker, der den Schießbefehl ausgesetzt hat. Das war seine Entscheidung, die konnte kein anderer treffen. Bei den MfS-Mitarbeitern gab es feste Wendungen für Honeckers Direktiven. Es hieß dann „auf zentrale Weisung“ sei beispielsweise ein Oppositioneller in den Westen abzuschieben. Die SED war aber nicht nur für Repression zuständig. Sie musste auch die Gesellschaft am Laufen halten.
Die Stasi war also kein frei fliegendes Ufo?
Zunächst einmal muss man sehen, dass nicht jedes einzelne SED-Mitglied wusste, was die Staatssicherheit gemacht hat. Honecker selbst hatte die Grundsatzentscheidung für den Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit mitgetragen. Andererseits war es so, dass die Stasi ihren enormen Apparat auch verstärkt eingesetzt hat, um Druck auf SED-Sekretäre auszuüben, sie in bestimmte Richtungen zu lenken. Es wurden durchaus auch SED-Mitglieder und in manchen Fällen sogar SED-Funktionäre geheimdienstlich überwacht. Allerdings waren umgekehrt die Parteimitglieder unter den Informanten der Stasi stark überrepräsentiert. Das darf man nicht als Gegeneinander verstehen: Es war für einen Genossen selbstverständlich, dass er der Stasi zuarbeitete.
Sehr enge Verbindungen also?
Die Partei hat dem MfS zwar bewusst sehr große Freiräume zugestanden, aber die Geheimpolizei hat sich niemals gegen die SED gestellt. Im Gegenteil, spätestens in den 80er-Jahren ging die Stasi immer stärker dazu über, am alltäglichen Gesellschaftsmanagement mitzuhelfen – gerade weil sie so viele Möglichkeiten hatte. Sie besorgte etwa Dachziegel für ein marodes Krankenhaus, verschaffte einem Arzt eine größere Wohnung, damit er seinen Ausreiseantrag zurückzieht. Solche Dinge, die außerhalb ihrer Pflichten der „Feindbekämpfung“ lagen, hat die Stasi dann mit übernommen.
Wie brachte die SED die Aufgaben von Staatssicherheit, Medien und Wirtschaft in die Balance?
Das war ein tägliches Durchwurschteln. Unsere Kollegin Andrea Bahr untersucht gerade die Kreisleitung von Brandenburg/Havel für eine Doktorarbeit. Da findet sich das Beispiel des VEB Kohlehandels Brandenburg. Dort gab es einen Parteisekretär, der extrem autoritär war. Die Kreisleitung hat sich nicht hinter ihn gestellt, sondern für seine Absetzung gesorgt. Denn die Versorgung der Stadt mit Kohle musste sichergestellt werden, man musste verhindern, dass die Mitarbeiter weggehen. Hier hat die SED-Kreisleitung ausgleichend gewirkt und nicht die harte Linie durchgedrückt. Ein typischer Fall von Ausbalancieren im Alltag. Aufgrund der nachlassenden Wirtschaftskraft verstärkten sich solche Tendenzen in den 80er-Jahren.
Der Anfang vom Ende? Warum verlor die SED 1989 ihre Handlungsmacht?
Das verweist auf einen zweiten Aspekt, nämlich wie es in der SED aussah. Man hat immer die Vorstellung von einem homogenen Block, der der Gesellschaft gegenübertritt. Allein der Blick auf die Mitgliederzahlen widerlegt das: 2,3 Millionen Mitglieder, das waren rund 19 Prozent der erwachsenen DDR-Bevölkerung. Es gab nicht die SED auf der einen und die Gesellschaft auf der anderen Seite. Es gab zahlreiche Querverbindungen. Die SED war die Partei der Staatsangestellten, aber auch der idealisierten Arbeiter. Das Stahlwerk Brandenburg war ein klassischer SED-Arbeiterbetrieb mit einem relativ hohen Anteil von Parteimitgliedern unter der Belegschaft. Für die 80er-Jahre kann man gut erkennen, wie sich Teile der Mitgliederschaft aus den Spielregeln verabschiedet haben.
Welche Gruppen waren das zum Beispiel?
Die erste große Gruppe waren Wirtschaftsfunktionäre, für die war Geschick in der Planbürokratie und Improvisation vordergründig. Die Planzahlen mussten stimmen und die Mitarbeiter bei Laune gehalten werden. Die Wirtschaftsfunktionäre haben sich bereits ab Ende der 70er-Jahre kaum noch für Ideologie interessiert. Die zweite Gruppe, die sich Mitte der 80er-Jahre zunehmend innerlich verabschiedete, waren die Journalisten, etwa der Parteizeitungen. Angeregt durch Gorbatschow wollten die keine Erfolgsberichterstattung mehr machen, sondern über die wirklichen Probleme der Gesellschaft berichten. Die entdeckten sozusagen damals ihren Beruf neu. Dass sie dann zur parteinahen Berichterstattung gezwungen wurden, ist eine andere Sache.
Welche Grenzen hatte die Partei?
Wenn man sich für alles zuständig fühlt, muss man auch für alles geradestehen. Das war eine Überlast. Eine moderne Gesellschaft lässt sich nicht zentralistisch aus einer Hand steuern. Man braucht Vereine, Verbände, Medien et cetera, die alle unabhängig voneinander agieren. Das Ganze ergibt dann ein Gleichgewicht, eine gewisse Stabilität. An der Überlast der Aufgaben ist die SED letztlich gescheitert. Hier stieß sie an ihre Grenzen, der Aufwand wurde immer größer und erbrachte immer weniger Ergebnisse.
Wo stand die SED im Vergleich mit den anderen kommunistischen Parteien im Ostblock?
Die Grundstruktur war überall gleich. Was für die SED auffällt, ist dass der ideologische Zusammenhalt bis zuletzt eine relativ große Rolle spielte. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei hatte beispielsweise sehr früh angefangen, nicht auf sozialistische Programmatik in der öffentlichen Wirkung zu setzen, sondern versucht, als patriotische Partei aufzutreten. Auch in der Sowjetunion spielte die große Idee kaum noch eine Rolle, die Partei fiel vielmehr durch örtliche Clanstrukturen auf, die bisweilen mafiotische Züge trug. Dass dies bei der SED anders war, liegt meiner Auffassung nach an der deutsch-deutschen Situation. Die Partei war täglich in einem Rechtfertigungszwang in der Konkurrenz mit dem Westen. Viele DDR-Bürger sahen ja jeden Abend die West-Tagesschau. Die sozialistische Programmatik, Gleichheit und Antifaschismus als ständiger Vorwurf gegen die Bundesrepublik war in der Selbstwahrnehmung viel wichtiger als in den anderen Ostblockländern, die keinen westlichen Gegenpart hatten.
Was hat Sie letztlich überrascht?
Meine Ausgangsposition war, dass die SED als eine relativ homogene Gruppe in der Gesellschaft betrachtet wird: hier die Genossen, dort der Rest der DDR-Einwohner. Doch es gab vielfältige Überschneidungen, Genossen wurden zum Beispiel nicht immer nur als Parteimitglieder wahrgenommen, sondern waren auch als Kollegen am Arbeitsplatz ansprechbar für gemeinsame Interessen. Dennoch blieb es dabei, dass die Partei den Voluntarismus der 1920er-Jahre nie losgeworden ist, das Ausgeben von Befehlen, auf die die ganze Partei gehorcht. So bekommt man eine moderne Gesellschaft aber nicht in den Griff. Das hat der SED letztendlich das Genick gebrochen.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: