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Der Corona-Ausbruch im Bergmann-Klinikum blieb lange unerkannt, die Zahl der infizierten Patienten sowie der Mitarbeiter stiegen sprunghaft an.

© Ottmar Winter

Coronakrise im Bergmann-Klinikum: Der Ausbruch

Wie konnte sich das Sars-Cov-2-Virus im Potsdamer Bergmann-Klinikum verbreiten? Insider und Dokumente weisen auf gravierende Fehler hin. Eine Rekonstruktion.

Nahezu jeder zehnte Mitarbeiter ist infiziert, mindestens 70 Patienten sind an Covid-19 erkrankt, 37 Patienten sind nach einer Corona-Infektion gestorben: Der zu spät erkannte Ausbruch des gefährlichen Sars-Cov-2-Virus am Potsdamer Klinikum „Ernst von Bergmann“ hat ernste Folgen. Seit dem 1. April ist das 1100-Betten-Haus abgeriegelt. Unter Druck und in Erklärungsnot geraten, hat der Vorsitzende der Geschäftsführung Steffen Grebner knapp vier Wochen nach dem Ausbruch jetzt Versäumnisse eingeräumt. Er bedauert die Fehler und verspricht Aufarbeitung und Konsequenzen. Am heutigen Dienstagabend berät dazu der Aufsichtsrat des Klinikums. Eine Abberufung Grebners steht im Raum. Doch was ist wirklich im Klinikum geschehen? Der Versuch einer Rekonstruktion der kritischen Zeit im März.

8. MÄRZ
Der erste Corona-Infizierte wird im Klinikum stationär behandelt. Volle Warteräume mit Dutzenden Menschen dicht an dicht im ambulanten Bereich besorgen Beschäftigte. Abstandsregeln werden erst am 16. März eingeführt – da sind Museen und Theater der Stadt bereits drei Tage geschlossen.

11. MÄRZ
Ein zweijähriges Kind, das seit 9. März im Klinikum behandelt wird, wird positiv auf Corona getestet. Ein Verdacht sei nicht erkennbar gewesen, da das Kleinkind „keine bekannten Kontakte mit positiv getestet Personen und sich in den vergangenen 14 Tagen nicht in einem bekannten Risikogebiet aufgehalten hatte“, teilte das Klinikum mit. Ärzte und Pflegekräfte, die ungeschützt mit dem Kind Kontakt hatten, müssen weiter arbeiten. Sie würden nicht vorsorglich unter Quarantäne gestellt, heißt es. Damit weiche man von den geltenden Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts ab, „um den medizinischen Betrieb aufrechtzuerhalten“. Die Amtsärztin der Stadt Kristina Böhm erlaubt dieses Vorgehen, es wird dazu auf Aussagen des Virologen Christian Drosten vom 6. März verwiesen.

13. MÄRZ
An diesem Tag beginnt der Zeitraum, für den die Geschäftsführung mehr als einen Monat später Versäumnisse einräumt. Es sei „eine kritische Entwicklung im Rahmen der Corona-Pandemie nicht ausreichend erkannt worden“. Dabei seien „tatsächlich nachgewiesene und registrierte Infektionen bei einzelnen Mitarbeitern nicht in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht und tiefgreifend analysiert worden“. Dies betreffe insbesondere die Bereiche Nephrologie, Urologie, Geriatrie und Allgemeinchirurgie.

An diesem 13. März beobachtet eine Krankenschwester bei sich erste Symptome. Nach den PNN vorliegenden Unterlagen liegt jedoch erst am 26. März ein Testergebnis für sie vor – positiv. Zehn Tage nach den ersten Symptomen, am 23. März, wird die Frau vom Gesundheitsamt in die häusliche Isolation geschickt. Dass es mehrere Corona-Infektionen bei Mitarbeitern gibt und welche Bereiche betroffen sind, weiß zu diesem Zeitpunkt im Klinikum offenbar offiziell niemand. Ein wichtiger Grund: Im Corona-Krisenstab des Klinikums ist der Betriebsarzt nicht vertreten. Er ist jedoch der einzige, der offiziell erfahren darf, woran erkrankte Mitarbeiter leiden. So wird nicht offenbar, wo infizierte Mitarbeiter arbeiten, wer möglicherweise jemanden angesteckt hat. Im Gesundheitsamt gehen jeweils Tage später nur positive Testergebnisse ein – ohne Zusammenhänge. Ebenfalls nicht im Klinikum-Krisenstab sitzt zudem auch die Krankenhaushygienikerin. Beide werden erst im April dazugeholt – auf Weisung des Gesundheitsamts.

14. MÄRZ
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) fordert die Krankenhäuser und Ärzte bundesweit auf, alle unnötigen Operationen zu verschieben und möglichst viel Personal vorzuhalten. Im Bergmann-Klinikum wird weiter operiert, auch elektiv – also nicht medizinisch unbedingt notwendig –, vermutlich bis Anfang April. Bis wann genau, darüber gehen die Angaben auseinander. Sabine Bülth, die Betriebsratsvorsitzende, sagt, es habe eine Anweisung der Geschäftsführung gegeben, wonach OPs fortgeführt werden dürfen, wenn die Patienten danach nicht länger als zwei Tage ein Bett auf der Intensivstation blockieren. Sie sagt auch, dass vorher kaum absehbar sei, ob ein Patient länger als zwei Tage intensivmedizinisch betreut werden muss. Dass ein Teil der Belegschaft zu diesem Zeitpunkt findet, das Klinikum bereite sich mangelhaft auf Corona vor, und sich deshalb wohl auch an den Betriebsrat wendet, daran kann Bülth sich nicht erinnern – sie ist bis 23. März im Urlaub.

21. MÄRZ
An diesem Tag begibt sich ein Mitarbeitender der Nephrologie (Nierenheilkunde) mit Symptomen in die Isolation, am 26. März erhält diese Person einen positiven Befund. Später wird die Nephrologie als eine der Stationen genannt, die von dem Corona-Ausbruch stark betroffen sind. Einen Tag vorher verkündet das Klinikum, dass das Personal Mund-Nasen-Masken „nur noch bei Arbeiten mit direktem Kontakt mit Haut, Schleimhaut, Ausscheidungen und bei Wunden bei Patienten mit multiresistenten Erregern“ tragen darf sowie bei „Patienten ohne Infektionsrisiko“ ohne Handschuhe Blutdruck gemessen oder "eine Infusion gelegt" werden soll.

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23. MÄRZ
In der Geriatrie, dem Epizentrum des Ausbruchs im Klinikum, werden auch an diesem Montag neue Patienten aufgenommen – nach PNN-Recherchen bis zum 27. März. Maßnahmen, Kontakte einzuschränken, gibt es dort nicht. Das gemeinsame Essen und Gruppentherapien werden weiter durchgeführt. Die Station, deren Patienten zur Hochrisikogruppe für Corona gehören, wird nicht abgeriegelt. Nach Unterlagen, die den PNN vorliegen, gibt es auf der Station ab dem 18. März Patienten, bei denen Covid-19-Symptome festgestellt werden. Am 23. März stellen Pflegekräfte der Geriatrie Symptome fest – sie gehen nicht mehr zur Arbeit, bekommen Tage später positive Befunde. Patienten, die von anderen Stationen auf die Geriatrie verlegt werden und von denen bekannt ist, dass sie potenzielle Kontaktpersonen ersten Grades von dort Infizierten sein könnten, werden nach PNN-Recherchen normal aufgenommen – sie werden nicht isoliert und nicht per Abstrich getestet.

25. MÄRZ
Auf der Geriatrie zeigen nach PNN-Recherchen immer mehr Patienten und Mitarbeiter Covid-19-Symptome wie Husten, Fieber, Lungenentzündungen. Doch erst jetzt werden die Gruppentherapien abgebrochen, die Gruppenräume geschlossen. Erst ab diesem Tag darf Personal nicht mehr die Station wechseln, es wird eine Mundschutz-Pflicht bei Kontakt mit Patienten und anderem Personal erlassen. Jetzt wird angewiesen, Patienten mit möglichem Kontakt zu Infizierten zu isolieren. Corona-Abstriche werden nach PNN-Recherchen jetzt vorgenommen, aber nur nach Erlaubnis der Chefärztin. Zum Vergleich: Am 19. März hat die Stadt Potsdam per Eindämmungsverordnung die Parks und Grünflächen geschlossen, damit es keine Menschenansammlungen gibt; am 23. März trat landesweit die Kontaktsperre mit 1,5 Metern Mindestabstand in Kraft.

26. MÄRZ
Der erste mit dem Coronavirus infizierte Patient stirbt. Er ist Patient der Geriatrie, er verstirbt auf der Station.

27. MÄRZ
Immer mehr Ärzte und Pflegekräfte bemerken Covid-19-Symptome – an diesem Tag in der Endoskopie und Infektiologie, ein und zwei Tage später in der Psychiatrie, Orthopädie und auch auf der Privatstation „Belvedere“ im obersten Stockwerk. Symptome hat seit dem 27. März auch ein Stationsreiniger. Auf der Geriatrie haben nach PNN-Recherchen Dutzende Patienten Symptome. Wer bemerkt zu diesem Zeitpunkt den Ausbruch des Virus? Wird jemand darüber informiert? Laut Infektionsschutzgesetz ist es Pflicht, 24 Stunden nach einem so genannten nosokomialen Geschehen – für das schon zwei miteinander möglicherweise in Verbindung stehende Infektionen in einer Gesundheitseinrichtung ausreichen – das Gesundheitsamt zu informieren. Dies geschah nach PNN-Informationen nicht. Die Betriebsratsvorsitzende Bülth sagt, sie habe an diesem 27. März mit Geschäftsführer Grebner gesprochen, da es „Gerüchte gegeben hatte“, dass Mitarbeiter infiziert seien. Grebner habe zu diesem Zeitpunkt „nicht gewusst, dass ein Problem besteht“.

28. MÄRZ
Jetzt wird offenkundig erkannt, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Das Klinikum beginnt, alle Mitarbeiter und alle Patienten zu testen. Klinikchef Grebner ruft Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) an. Er sei über „Verdachtsfälle auf mehreren Stationen, die getestet werden müssen“ informiert worden, sagt Schubert. Am 29. März nimmt Schubert an der Sitzung des Krisenstabs im Klinikum teil. Dort habe es keine alarmierenden Zahlen gegeben: Gemeldet wurden 17 Covid-19-Infektionen im Klinikum. Dennoch telefoniert Schubert am Abend inoffiziell mit Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) zu dem Fall.

30. MÄRZ
An diesem Morgen schnellt die Zahl der gemeldeten Coronainfektionen aus dem Klinikum nach oben – statt 17 sind es nun 58. Das Klinikum meldet an diesem Tag die „Inbetriebnahme eines separaten und isolierten Covid-Krankenhauses“. Zuvor mussten dafür Stationen leergezogen werden – nach PNN-Recherchen haben diese Umzüge, bei denen auch infizierte Patienten durch das Haus bewegt wurden, zur Ausbreitung des Virus beigetragen. Am Abend nach einem erneuten Telefonat Schuberts mit Ministerin Nonnemacher steht fest: Das Interventionsteam des Robert-Koch-Instituts muss um Hilfe gebeten werden.

31. MÄRZ BIS HEUTE
Danach geht es Schlag auf Schlag. Am 1. April verfügt das Gesundheitsamt einen Aufnahmestopp für das Klinikum, am 2. April ergeht die erste Anordnung an das Klinikum, die Infektionsdaten wie im Gesetz vorgesehen zu übermitteln. Am 3. April sind die RKI-Experten vor Ort. Am 6. April legen sie ihren Bericht vor, der Versäumnisse und Fehler aufdeckt. Am 6. April leitet Oberbürgermeister Schubert Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen drei Ärzte ein, weil der Verdacht besteht, dass sie gegen die Meldepflichten verstoßen haben. Am 7. April weitet Schubert die Verfahren auf die Geschäftsführung aus und schaltet die Staatsanwaltschaft ein. Am 8. April ergeht die nächste Anordnung des Gesundheitsamts an das Klinikum, die Infektionsdaten zu übermitteln. Am 13. April zieht das Rathaus die Arbeit des Krisenstabs im Klinikum an sich. Ein siebenköpfiges Team des Unternehmens Kienbaum soll die Dreiteilung des Klinikums in einen weißen, grauen und einen schwarzen Bereich umsetzen.

Am 15. April stellt die Deutsche Stiftung Patientenschutz Strafanzeige unter anderem wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung gegen das Klinikum, die Staatsanwaltschaft prüft die Aufnahme von Ermittlungen. Das Gesundheitsamt fordert das Klinikum mit Zwangsgeldandrohung auf, die Infektionsdaten herauszugeben – sie werden übermittelt, aber unvollständig.

Im Klinikum-Aufsichtsrat und im Hauptausschuss der Stadtverordneten wird am 17. und 18. April über Konsequenzen beraten. Am 18. April räumt die Geschäftsführung Versäumnisse ein. Das Klinikum hat für seine Krisenkommunikation jetzt eine Profiagentur beauftragt – das Unternehmen BSK aus Düsseldorf. Dessen Chef Tobias M. Weitzel ist persönlich mit dem Klinikum betraut, laut der Homepage beträgt sein Stundensatz für Krisen-PR genau 320 Euro. 

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Hinweis: Wir haben den Beitrag am 21.4.2020 in einem Detail korrigiert: Klinikummitarbeiter sollen nicht ohne Handschuhe Blut abnehmen, sondern Blutdruck messen. Dies gelte für Ambulanzen, auf den Stationen und in Teilen des OPs.

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