
© Guido Berg
Landeshauptstadt: Der Freischwimmer
1966 hatte Hartmut Richter genug: In einer Augustnacht tauchte er im Teltowkanal in die Freiheit West-Berlins
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Die junge Journalistin vom russischen Staatsfernsehen sagt, der Beitrag wird am 13. August gesendet, dem 50. Jahrestag des Mauerbaus. Hartmut Richter hat seine Zweifel. Vor drei Jahren noch ließ Russland ihn nicht einreisen. Ob es daran lag, dass er einmal im Westteil Berlins die Tür eines Aeroflot-Büros zumauerte, aus Protest gegen den Kalten Krieg? Da war die Reporterin mit der Kurzhaarfrisur, die ihm ein Mikrofon mit der Aufschrift „Rossija“ entgegenhält, noch gar nicht geboren. Seine Aktionen werden ihm wohl alte KGB-Genossen bis heute verübeln, glaubt Richter. Der jungen Frau aber, die ihn in der Mauergedenkstätte Bernauer Straße in Berlin interviewen will, erzählt er seine Geschichte gern. Eine Geschichte über den Kampf um das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.
Er war jung, er hätte Staatsratschef Walter Ulbricht vieles verziehen. Nur nicht, dass er ihm den Beat verbieten wollte, die Musik der Beatles, der Stones und der Beach Boys. Hartmut Richter, geborener Glindower, besuchte das Helmholtz-Gymnasium in der Potsdamer Kurfürstenstraße, damals Erweiterte Oberschule (EOS). Um 1962 herum mussten ein paar Jahrgänge neben dem Abitur auch noch einen Beruf lernen. „Darum haben Leute seines Jahrgangs wie Gysi oder Diestel so komische Berufe“, sagt Richter. Gysi ist Rinderzüchter. Hartmut Richters Ausbildungsziel: Betriebs- und Verkehrseisenbahner mit Abitur.
Eines Tages steht die Staatssicherheit vor der Tür. Bei Arbeiter- und Bauern-Festspielen will die DDR „eine anständige Jugend“ präsentieren; nicht Beat-Fans mit langen Haaren, wie Richter einer ist. Die Stasi-Leute nehmen den Schüler mit – und schneiden ihm die Haare. „Der Staat schneidet mir die Haare!“, ruft Richter aus, als könne er es noch heute nicht fassen. Ein Zwangshaarschnitt von der Stasi – „und nicht einmal verschnitten, aber ich war sehr gekränkt“. In der Schule weigert er sich, dem Pionierleiter zu erzählen, welcher von seinen Mitschüler heimlich Westfernsehen guckt – das Fass dessen, was Hartmut Richter zu tolerieren bereit war, füllt sich und läuft irgendwann über. Richter: „Ich kenne niemanden, der rüber wollte, weil drüben die Zigaretten besser schmecken.“
Der erste Fluchtversuch im Januar 1966 endet früh. Richter will es Freunden gleichtun, die in der damaligen Tschechoslowakei „nur ein paar Zäune“ überwanden und in Österreich waren. Doch er wird, erkannt an den nachgewachsenen langen Haaren, noch auf DDR-Gebiet aus dem Zug geholt. Der „Grotewohl-Express“, der Gefangenen-Waggon der Bahn, bringt den Schüler zurück nach Potsdam. Richter: „Ich war fast eine Woche lang unterwegs. Da ist viel zerbrochen Wie das Wachpersonal vorging “
Richter heuchelt. Es sei eine Kurzschlusshandlung gewesen. In einem Brief aus dem Gefängnis schreibt er an seine Eltern, Pawel Kortschagin sei sein großes Vorbild. Seine Mutter weiß gar nicht, wer Pawel Kortschagin ist, sehr wohl aber die Stasi und auch der Richter. Es ist der Held aus Nikolai Ostrowskis Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“, bis 1989 Pflichtlektüre für DDR-Schüler. Sterbend ruft Pawel Kortschagin: „Mein ganzes Leben und all meine Kräfte habe ich hingegeben für das Schönste der Welt – den Kampf um die Befreiung der Menschheit.“
Richter bekommt Bewährung. Er fliegt von der EOS, soll aber seine Lehre beenden. Mai 1966: Richter ist 18 Jahre alt und fertig mit der DDR. „Sollte ich bis zur Rente die Stiefel küssen, die einen treten?“
Richter ist ein guter Schwimmer. Im Gefängnis sprach er mit einem Mitgefangenen, der sich mit Grenzanlagen auskannte. Am Abend des 26. August reibt sich Richter dick mit Creme ein. Das hilft gegen die Kälte. Er trägt zur Tarnung ein schwarzes T-Shirt. An der Eisenbahnbrücke, nahe der Stelle, wo die Friedhofsbahn nach Stahnsdorf den Teltowkanal quert, taucht Richter ins Wasser. Die Uhr zeigt eine halbe Stunde vor Mitternacht. Es regnet. Der Kanal ist schwach beleuchtet, Richter schwimmt im Zick-Zack-Kurs von einer schattigen, dunklen Stelle zur nächsten. Dort taucht er auf, holt Luft. Nur schemenhaft sieht er die hölzerne Brücke, über die Grenzsoldaten patrouillieren. Er hört ihre Stimmen, sächsischer Dialekt, und, noch schlimmer, das Hecheln eines Hundes. Wegen der Kälte schlagen seine Kiefer aufeinander. „Ich hatte meine Kiefer einfach nicht unter Kontrolle.“ Der Hund schlägt an. Die Grenzsoldaten beruhigen ihn. Richter weiß, er darf nicht zu nah ans Ufer, um nicht Alarmsysteme auszulösen. Er darf aber auch nicht zu weit weg vom Ufer, um nicht gesehen zu werden. An der Holzbrücke erkennt er dünne Drähte, „wie Angelsehnen“. Um sie nicht zu berühren, taucht er so tief wie möglich unter der Brücke durch. Doch dann ein Stahlgitter! Undurchlässig, Richter wühlt im Schlamm, findet keine Lücke. Nur ein Gedanke: „Entweder die knallen mich ab oder ich schaffs!“ Angestrahlt vom hellen Scheinwerferlicht steigt er über das Gitter hinweg. Kein „Halt! Stehen bleiben oder ich schieße!“, keine Kalaschnikow-Salven, die bis zum Mauerfall 1989 so oft tödlich treffen. Nichts. Alles bleibt ruhig. „Vielleicht hat mich einer gesehen und wollte mich nicht sehen?“
Umrisse, da steht einer! Richter erschrickt. Doch es ist nur ein Kreuz, aufgestellt für den Westberliner Kaufmann Hermann Döbler, der wenige Wochen vorher von DDR-Grenzern erschossen wurde, nachdem er sich mit seiner Freundin in einem Motorboot der Grenze näherte. Es ist 3.30 Uhr, Richter sieht ein Westauto, steigt aus dem Wasser und schleicht hin. Er klopft auf der Beifahrerseite an die Scheibe. Die etwa 40-jährige Frau sagt, er solle abhauen. Das auf dem Rücksitz schlafende Kind wird wach. Dann realisiert die Frau, dass sie keinen Penner, sondern einen DDR-Flüchtling vor sich hat. Richter: „Als ich wusste, dass ich es geschafft hab, wurde ich ohnmächtig.“
Im Westen wird er nicht als Held gesehen. Die Bundesrepublik beginnt, sich mit der deutschen Teilung abzufinden. Richter schult um, wird Sozialarbeiter, ist gegen den Vietnam-Krieg und die Apartheid. Doch er fragt weiter: „Was ist mit den Mauertoten?“ Das Transitabkommen vom Dezember 1971 bringt die Chance, auch anderen DDR-Bürgern relativ einfach die Flucht zu ermöglichen – im Kofferraum eines Autos. Richter betätigt sich als Fluchthelfer. An den Autobahnen zwischen Berlin und Westdeutschland steigen 33 Menschen bei ihm zu und erreichen mit ihm die Freiheit West-Berlins. Als das Baby einer Frau im Kofferraum im Moment der Grenzkontrolle zu weinen beginnt, bricht ihm der kalte Schweiß aus. „Man darf kein ängstlicher Mensch sein.“
Als er seine Schwester rüberholen will, springt an der Kontrollstelle ein Wachhund auf den Kofferraum seines Ford Escort und es ist aus. Das Bezirksgericht Potsdam, nah am Nauener Tor, verurteilt ihn zu 15 Jahren Haft. Als sie ihn bei der Urteilsverkündung hochzerren, sieht er durchs Fenster seine alte Schule. Nach fünf Jahren und sieben Monaten wird Richter vom Westen freigekauft.
Das russische Kamerateam ist weg, Richter trinkt einen Kaffee im Bistro neben der Mauergedenkstätte. Plötzlich fliegt ein Spatz durch die Tür und findet nicht wieder raus. Richter erinnert sich, wie ein Spatz im Stasi-Gefängnis Lindenstraße durch einen Spalt zwischen den Glasbausteinen in seine Einzelzelle kam. Er erkannte, dass das Tier bei ihm sterben würde. Richter zwängte seine Hand ins Freie und warf den Vogel hoch. Auch jetzt, im Bistro, endet die Eskapade gut. Der Vogel findet die Tür, „da, jetzt ist er raus“, freut sich der 63-Jährige.
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