Von Guido Berg: Der „ganz Liebe“ vom Club 18
Christopher Schulz lebt seit 15 Jahren im DRK-Kinderheim Am Stern. Am Wochenende ist er oft bei seiner Mutter, die ihm witzige Mails schickt und „ganz locker“ ist. Bald wird er volljährig sein
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Auch ein freier Tag beginnt mit Aufstehen. Christopher Schulz hat diese Hürde schon gemeistert. Er deckt den Tisch. Wurst, Käse, Erdnussbutter. In den Brötchenkorb aus blauem Plastik kommt eine weiße Serviette. „Night life“ steht auf seinem T-Shirt. Sein Nachtleben gestern war aber nicht so wild. Sie müssen unter der Woche spätestens um 22 Uhr wieder im Heim sein. Am Wochenende, wenn er seine Mutter am Schlaatz besucht, kann es auch später werden. Dann geht der 17-Jährige zur Disco, spielt Billard – der junge Mann mit den schwarzen Igelhaaren schiebt die Kugel mit eigenem Queue und mit Strategie – oder er sitzt mit Freunden zusammen und sie ziehen gemütlich an einer Wasserpfeife.
Christopher geht auf die Steuben-Gesamtschule. Die mündliche Englisch-Prüfung gestern hat er mit einer Vier plus bestanden. „Noch einen Punkt mehr und es wäre eine Drei gewesen“, sagt er ohne Bedauern. Er ist zufrieden. Seinen Platz am Oberstufenzentrum Ludwigsfelde hat er schon. Er will das Fachabitur Technik machen und später Kfz-Mechatroniker werden. Ja, Daimler in Ludwigsfelde wäre ein guter Arbeitgeber. Sein Traum aber ist eine eigene kleine Schrauberwerkstatt. Bald kommt Christopher, großgewachsen, kräftig, zur Musterung. Er will die sechs Monate Grundwehrdienst schon machen. Aber das Formular, auf dem steht, dass er nicht in Krisengebieten eingesetzt wird, „unterschreibe ich als erstes“, sagt er und beißt einen großen Bissen vom Brötchen ab, dick bestrichen mit der Erdnussbutter.
Sie sind zu sechst in der Jugendwohngruppe, drei Jungs, drei Mädchen. Er ist der Älteste und verwaltet das Verpflegungsgeld. Wöchentlich gibt es eine bestimmte Summe, mit der kommt er „locker hin“. Seit 15 Jahren ist Christopher Schulz im Kinderheim des Deutschen Roten Kreuzes im Wohngebiet Am Stern. Das Jugendamt hatte entschieden, dass es so besser ist für ihn. Seine beiden älteren Brüder waren bereits dort. „Extrem blöd“ war es bloß, als vor vier Jahren der letzte seiner Brüder auszog. Der eine ist jetzt Landschaftsgärtner in Kassel, der andere Speditionskaufmann und wohnt am Schlaatz. Wie es gewesen wäre, anders groß zu werden? So wie es ist, ist es okay, „ich bin so aufgewachsen“, sagt er: „Wir sind ja nicht arm dran, wir haben alles, was wir brauchen.“ Christopher steht unmittelbar vor einem neuen Lebensabschnitt. Am 21. Juli wird er 18 Jahre alt. Er denkt jetzt nicht zurück, er denkt nach vorn. Er wird ausziehen aus dem Heim, auch mit Wehmut, aber er wird etwas gewinnen, auf das er sich freut. Bei dem Wort „Freiheit“ blitzen seine Augen kurz auf. Sie sind braun, außen in grün übergehend.
Aber noch ist er der Chef seiner Gruppe und trägt Verantwortung. Er bestätigt: „Wenn ich sage, wir gehen jetzt einkaufen, dann ist das auch so.“ Allerdings sind die anderen seiner Gruppe gerade in der Schule. Christopher wird also allein in die Kaufhalle gehen. Es ist Mittwoch, da kochen sie abends gemeinsam. Chili con carne wird es geben. Er packt leere Flaschen in einen Beutel und holt das Portemonnaie aus seinem Zimmer. Es ist ein Jugendzimmer, wie es wohl ein jeder in seinem Alter hat. Ein schwarzer Ledersessel zum Musik-Hören, die Ärzte oder die Onkelz etwa. „Ich höre alles“, sagt er. Auf dem Schreibtisch steht neben dem Computer ein Bild seiner Ex-Freundin, darauf ein Aufkleber, ein kleines rotes Herz. „Wir sind im Guten auseinander. Wir sind Freunde“. Am Fußende seines Bettes steht ein Fernseher, obwohl sie im Gemeinschaftsraum auch einen haben. An der Wand hängen Plakate mit schnellen Autos, Audi TT, Nissan 350 Z. Wobei der Audi R8 „Le Mans“ sein Lieblingsauto ist. „Den hätte ich gern.“ Christopher stopft sich eine Zigarette bevor er geht. Er raucht seit vier Jahren. Versuche, es sein zu lassen, schlugen fehl.
Zweimal 500 Gramm Gehacktes, mehrere Packungen Beutel-Reis, einige Tüten Maggi-Fix Chili con Carne, mehrere Mineralwasserflaschen und eine Packung Rasierklingen mit jeweils vier Klingen aus Titanium landen im Einkaufskorb. Zielsicher steuert Christopher die Regale an. Für die Nahrungsmittel und die Klingen lässt er sich an der Kasse jeweils einen gesonderten Kassenbon geben. Er muss genau abrechnen, was er wofür kauft. Taschengeld zur freien Verwendung bekommt Christopher auch, 30 Euro im Monat. Er hat Klassenkameraden, die mehr kriegen, aber er sieht es gelassen. Im Dezember stehen ihnen zusätzlich 52 Euro Weihnachtsgeld zu. „Davon werden dann die Weihnachtsgeschenke gekauft, die man sich wünscht.“
Im Club 18, wo er viele Nachmittage verbringt, warten schon Freunde von ihm, Bine und Dario. „Chris“, so sein Spitzname, ist „ein ganz Lieber“, sagt Bine und Dario schwärmt davon, was sie zusammen schon alles für „Kacke gebaut“ haben; „was Kiddys halt so machen“, die erste Zigarette rauchen oder so. Den „Gameroom“ haben sie selbst gestaltet, die Wände sind bemalt. Ein Bild ist mit „C. Schulz“ signiert, es zeigt ein laubumkränztes Billard-Queue, das eine Kugel durchsticht. Wer baut, der haut. Christopher hat die Kugeln platziert, die schwarze in der Mitte, und hat demzufolge den ersten Stoß. Dario und Bine werden vom Fotografen in die richtige Position dirigiert, dann setzt Christopher sein Queue an, sein ganzer Stolz für 45 Euro. Der rechte Arm schiebt explosionsartig nach vorn, der Stab trifft die weiße Kugel, diese prallt gegen den dreieckigen bunten Kugelhaufen, krachend fällt eine der in alle Richtungen auseinander fliegenden Kugeln ins Loch. „Christopher hat die vollen“, stellt Dario fest. Dass Bine und er Fotomodell spielen dürfen, weil Christopher in die Zeitung kommt, finden sie lustig. „Das macht einen Kaffee“, lacht Bine – „oder ich hätt’ da noch ein Fahrrad zu putzen“.
Keinen Tag ohne Jappy. Die jungen Leute gehen jetzt im PC-Raum des Club 18 online. Sie sind alle bei jappy.de, eine Internet-Gemeinschaft für Leute ab 14. Cristophers Nutzername ist „First-King“, er loggt sich ein, von seinen 95 registrierten Freunden, die er alle auch persönlich kennt, sind 20 gerade auch „on“, zum Beispiel „Goldschatz“, „Ghetto-Prinz“ und „Knallbonbon“. Auf die Werbung bei Jappy achtet Christopher gar nicht – „L''Oreal, weil jede Mutter es wert ist“, steht da, dazu ein Foto von Maria Furtwängler, aber die kennt der Jugendliche gar nicht. Er hat andere Helden, Bushido etwa, die Biografie von dem Rapper hat er sogar gelesen.
Christophers Mutter ist auch bei Jappy und gerade online. Sie fragt per E-Mail, ob das „Interview“ schon vorbei ist. Christopher antwortet „es läuft gerade“. Ein paar Minuten später schickt ihm seine Mutter eine Datei. Es ist das Bild einer lustigen „Kampfkatze“, die eher aussieht wie eine Fledermaus mit Beinen. Christopher lacht herzlich. „Doch, meine Mutter ist ganz locker“, sagt er. Alle Kinder in dem DRK-Heim haben noch „Elternteile“, wie Christopher sagt. Heimleiter Carsten Lehmann erläutert, sie versuchten nicht, die Familie der Kinder zu ersetzen, es gehe eher um Hilfe und Unterstützung.
Seinen Vater hat Christopher kennen gelernt, als er 13 Jahre alt war. Er ist sogar einmal zu ihm geflogen, nach Bayern. Als sein Vater in die Nähe von Potsdam zog, hätte Christopher zu ihm ziehen können. Aber er wollte nicht. „Das ging mir zu schnell.“ Das letzte Mal hat er mit seinem Vater am Silvestertag telefoniert und ihm ein gesundes neues Jahr gewünscht.
Im Fernsehen läuft Viva, die Mädchen sitzen in der Sofa-Ecke und die Jungs kochen. Christopher liest die Kochanleitung und sagt zu Marcel: „Magst du mir mal 1,2 Liter Wasser in den Topf einlassen, für den Reis?“ Marcel mag. Der sanften Autorität von Christopher kann er sich nicht entziehen. Auch Senaid nicht, nach eigener Auskunft Mitbegründer der Rap-Gruppe „All in studios“, der beim Anbraten des Gehackten hilft. Zum Schluss kommen Kidney-Bohnen aus der Büchse dazu.
Sie essen, sie lachen, sie freuen sich auf die Fischstäbchen, die die Mädchen nächsten Mittwoch braten werden, sie überlegen, ob sie im Kino „Das Bildnis des Dorian Gray“ sehen wollen, wie Erzieher Tobias vorschlägt. Dann gehen sie die Dienste durch, Jessica hat Abwasch, Cindy hat frei, Christopher muss das Wohnzimmer fegen und wischen. „Familie“, sagt Christopher, „das sind schon meine Brüder und meine Mutter“. Die anderen Heimkinder, die Leute im Club, im Chatroom, „das ist meine große Überlebensgemeinschaft, das sind meine Freunde“.
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