
© Andreas Klaer
Holocaust-Überlebende erzählte Potsdamer Schülern von ihrem Leben: Die Angst vor klackernden Stiefeln
Die 82-jährige Nili Goren überlebte mit Glück und Zufällen den Holocaust. Jetzt erzählte sie Potsdamer Schülern von ihren Erlebnissen während der Zeit des Nationalsozialismus.
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Nili Goren hatte viel Glück in ihrem bisherigen Leben. Und einen Vater, der alles tat, um seine Familie zu schützen. Die im holländischen Utrecht aufgewachsene und seit 1949 in Israel lebende Jüdin musste als Kind vor den Nazis versteckt werden. Drei Mal kam sie bei Familien auf dem Lande unter, drei fremde Namen musste sie annehmen. Am Dienstag erzählte Goren vor rund 100 Schülern des Einstein-Gymnasiums in Potsdam von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Holland.
Und die hatten es in sich, wie auch an der Reaktion der Jugendlichen zu beobachten war. „Die sieht aber noch gut aus“, raunte ein Mädchen nur, als Goren anfing zu sprechen. Während sie die Jahre der Besatzung durch die Nationalsozialisten beschrieb, hallte kein Wort, kein Husten aus den Reihen der Schüler.
Dabei habe die Besatzung durch die deutsche Wehrmacht ab 1940 für Goren, die 1933 als Jacqueline van der Hoeden geboren wurde, aus ihrer Sicht relativ harmlos begonnen. „Die Nazis wollten die Bevölkerung zunächst beruhigen“, erzählte sie. Allerdings ordneten sie an, dass jeder sich bei einer Kontrolle ausweisen müsse. Und davon habe es viele gegeben, erinnerte sich die Seniorin. „Überall waren Soldaten und Polizisten.“ Dann wurden die Lebensmittelrationen verteilt und im Laufe der Monate zusammengekürzt. „Bis es nichts mehr gab.“ Der Davidstern, das im Dritten Reich verwendete Zeichen für Juden, musste ständig getragen werden. „Juden wurden isoliert. Sie durften ihre Berufe nicht mehr ausüben, nicht mehr am Schulunterricht teilnehmen, die Kinder durften sich nicht mehr mit ihren Freundinnen treffen.“ Nili Goren war damals acht Jahre alt. In Holland hätten Juden und Christen immer friedlich zusammengelebt. „Und auf einmal war ich ein anderes Mädchen. Ich war Jüdin“, erzählte sie.
An was sie sich noch gut erinnert, sind die Lastwagen, die immer mal wieder plötzlich in die Straße einbogen, in der sie wohnte. Dann quietschten die Reifen laut, Soldaten sprangen heraus und gingen zu einer Wohnung. Kurz darauf wurden Menschen in die Laster gebracht und abtransportiert. Die Deportation der holländischen Juden in die Konzentrationslager hatte begonnen.
Ihre Familie blieb zunächst verschont. Dann sollte die jüdische Gemeinde in Utrecht Zertifikate ausstellen für ihre Mitglieder, mit denen angeblich für die Juden eine Ausreise nach Palästina ins heutige Israel möglich werden sollte. Dies sei das erste Mal gewesen, dass ihr Vater laut geworden sei und Freunde und Bekannte angeschrien habe, berichtet Goren. „Verstehst du nicht, dass das eine Lüge ist?“, habe der Vater gebrüllt – ohne Erfolg. Viele wollten einfach nicht glauben.
Etwa 1942 erkrankte Nili an Diphtherie. Ihr Vater, Veterinärmediziner und Dozent an der Universität, brachte ein Schild an der Wohnungstür an mit der Warnung vor einer ansteckenden Krankheit. Diese rettete der gesamten Familie das Leben. Wenige Tage später rasten wieder Lastwagen heran, wieder quietschten die Bremsen laut, Soldaten „klackerten mit ihren Stiefeln“ heran und blieben vor der Tür stehen. Doch die Soldaten hätten es wegen des Zettels mit der Angst gekriegt und seien wieder abgefahren, erzählt die 82-Jährige. „Das war wie in einem Walt-Disney-Film.“ Und der Moment, um unterzutauchen.
Die vier Kinder kamen zunächst getrennt voneinander bei Bekannten unter. Dann ging es für Nili in ein kleines Dorf zu einem katholischen Paar. Dies ging gut, bis die Nachbarn anfingen zu tuscheln und sie mussten wieder weg. Diesmal zu einem Helfer, der im Widerstand aktiv war.
Vor allem die gefährlichen Zugfahrten mit dem Vater in ihre Verstecke wird sie wohl nie vergessen. Beide reisten mit gefälschten Pässen und Namen – sie nannte sich damals Lieneke, später im Widerstand Nili, den Namen, den sie bis heute trägt. Der Vater bereitete seine Tochter darauf vor, wie sie sich bei einer Kontrolle verhalten sollte. Sie müsse immer dicht hinter ihm gehen. „Schau immer auf meine Stiefel. Wenn sie nicht mehr laufen, geh einfach weiter und versuche, in den nächsten Zug zu steigen“, sagte er dem kleinen Mädchen.
Während dieser Zeit traf sie noch einmal ihre Mutter wieder, die bereits sehr krank war und in einem Krankenhaus des Widerstands in einem Wald behandelt wurde. Wenig später starb sie. Nach dem Krieg wanderte Goren nach Israel aus. Noch immer hält sie Kontakt zu den Kindern ihrer Helfer, die mittlerweile alle gestorben sind. Die Deutschen hätten unmenschliche Sachen gemacht. Aber es habe auch gute Momente gegeben, etwa mit einem jungen Soldaten. Der 17-Jährige habe Bilder seine Mutter dabeigehabt. „Er war ein Bub wie alle Buben.“ Was denke sie über die aktuellen kriegsähnlichen Zustände in Israel oder den Bürgerkrieg in Syrien, fragte eine Schülerin. Krieg sei schrecklich für jeden, egal ob jüdisch, christlich oder arabisch. „Da machen es sich die Politiker manchmal doch zu bequem“, so Goren.
Die Zeitzeugin ist am morgigen Donnerstag, dem 15. Oktober, um 10.30 Uhr noch einmal im Ernst-Haeckel-Gymnasium in Werder (Havel) zu Gast.
Stefan Engelbrecht
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