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Von Guido Berg: Die Nachricht der Frau Pfifferling

Was eine Anzeige in der „New York Times“ mit Potsdams Geschichte zu tun hat: Erinnerung an die Familie Zielenziger

Stand:

Es ist nur ein kleiner Eintrag in der „New York Times“ vom 21. November dieses Jahres. Aber Irene Diekmann, Wissenschaftlerin am Potsdamer Moses Mendelsohn Zentrum, findet ihn. „Eric W. Zielenziger“, steht da in englischer Sprache, „Gewürzhändler, Zeitzeuge des Holocaust, überlebte den Krieg versteckt bei einer holländischen Familie, starb am Samstag nach kurzer Krankheit“.

Irene Diekmann widmet sich der jüdischen Geschichte Brandenburgs, seit dies ab 1989 möglich ist. In der DDR gab es andere Forschungsschwerpunkte. „Ein Genozid als Staatsdoktrin – diese Monströsität wurde nie anerkannt“.

Unausweichlich stößt die Historikerin bei ihren Aktenstudien auf den Namen Zielenziger. Julius Zielenziger, seit 1916 Potsdamer Stadtrat, war 40 Jahre lang im Vorstand der Potsdamer Synagogengemeinde und ab 1934 ihr Vorsitzender. Sein Sohn, Kurt Zielenziger, schrieb als Stellvertreter des Potsdamers Alfred Wiener sogar internationale Geschichte. Das von Wiener gegründete Jewish Central Information Office (JCIO), später als „Wiener Library“ bezeichnet, ist die älteste Institution der Welt, die Dokumente des Nazi-Regimes und der Verbrechen gegen die Juden sammelte. Wiener konnte noch nach London übersiedeln, Kurt Zielenziger jedoch kam nicht mehr aus dem besetzten Amsterdam heraus und starb im KZ Bergen-Belsen.

Welch eine glückliche Fügung für Irene Diekmann, Kurt Zielenzigers Sohn Eric in New York ausfindig zu machen. Lebend, was für einen 1920 in Berlin geborenen Juden alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Seit 1997 war sie mit ihm in Kontakt. Auch eine Schülerin der Voltaire-Gesamtschule war 2009 ganz sprachlos, als sie Eric Zielenziger telefonisch erreichte. „Ich hatte vorher genau aufgeschrieben, was ich sagen will“, erzählte sie: „Aber dann war plötzlich alles weg.“ Die Schüler recherchierten zum Schicksal der Zielenzigers, denn sie wollten möglichst viel herausbekommen über Anna Zielenziger, der Frau von Stadtrat Julius Zielenziger. Sie wurde aus Amsterdam deportiert und im November 1943 von den Nazis ermordet. Seit März 2009 erinnert ein Stolperstein vor dem Potsdamer Haus Gutenbergstraße 61 an Anna Zielenziger. In ihre Stolperstein-Dokumentation konnten die Voltaire-Schüler noch schreiben: „Ihr Enkel Eric lebt heute in New York.“

Nun ist er gestorben, 90-jährig am 20. November. Als er 2007 das letzte Mal Potsdam besuchte, begleitete ihn Suzann Goldstein, Enkelin des ehemaligen Potsdamer Rabbiners Hermann Schreiber. Eric Zielenziger war „unglaublich fit“, erinnert sich Irene Diekmann. Sie fotografierte ihn am Platz der Einheit, wo früher die Synagoge stand, und auf dem jüdischen Friedhof in Potsdam vor dem Grab seines Großvaters Julius Zielenziger, verstorben 1938, kurz vor der Auswanderung der Familie nach Amsterdam.

Amsterdam war die Stadt der Hoffnung vieler deutscher Juden, der Verfolgung zu entkommen. Für den jungen Eric ging sie auf. Die Geschichte seiner Rettung hätte ein Bestseller sein können wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ oder Marcel Reich-Ranickis „Mein Leben“. Er habe nicht die Ruhe dazu gehabt, ein Buch zu schreiben, sagt Irene Diekmann. Kurz, in einem dreiseitigen Artikel, hat er seine Amsterdamer Zeit doch einmal geschildert. Überschrift: „500 Days in Hiding“ – 500 Tage im Versteck.

Eric ist 22 Jahre alt und in derselben zionistischen Jugendorganisation wie Anne Frank. Er und seine Eltern verstecken sich in einem Keller, auf den Tisch der darüberliegenden Wohnung legen sie eine Nazi-Zeitung. Sie hören die Schritte der SS-Schergen über ihrem Kopf, doch der Trick funktioniert, sie gehen wieder. Die Eltern haben einen ecuadorianischen Pass, wollen ausreisen. Der Abschied ist kurz, sie werden sich bald wiedersehen, schließlich sind die Alliierten gerade auf Sizilien gelandet, das Ende Hitlers absehbar. In der Nacht darauf werden die Eltern verhaftet, Eric versteckt sich bei der Apotheker-Familie Blom, später bei Freunden seiner Eltern, Arthur und Grete Connors.

Im Februar hört Eric in seinem Versteck die Klappe des Briefkastens. Eine Schwester seiner Mutter hat aus Genua geschrieben. Sie habe eine Postkarte seiner Mutter, Lilli Zielenziger, aus Bergen-Belsen bekommen. Es gehe ihr gut, stand auf der Karte aus dem KZ. Doch unterschrieben ist sie mit „Widow Zielenziger“ – Witwe Zielenziger. Der junge Mann weiß nun, dass sein Vater tot ist.

Die Geräusche der alliierten Bombenflugzeuge sind Musik in Erics Ohren. Nach der Befreiung Amsterdams sucht er wochenlang nach einem Lebenszeichen seiner Mutter. Jede Nacht lauscht er im Radio dem Verlesen von Listen mit den Namen Überlebender. Eines Tages erhält Arthur Connor ein Anruf von einer Frau Pfifferling; sie war im selben Zug wie Erics Mutter, der von Bergen-Belsen nach Osten fuhr. Im April 1945 wurden sie bei Tröbitz im Süden Brandenburgs von der Roten Armee befreit. Diese war völlig unvorbereitet, hunderte ausgemergelte Menschen medizinisch zu versorgen. Am 13. Mai starb Lilli Zielenziger an Typhus. Sie liegt auf einem kleinen Friedhof in Tröbitz in einem unmarkierten Grab. Später übergab Frau Pfifferling Eric Zielenziger ein kleines Kästchen, darin die Eheringe seiner Eltern, die Eric und seine Frau Ruth später trugen.

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