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Überalterung und Nachwuchsmangel: Auf den 9. „Potsdamer Begegnungen“ warf man einen deutsch-russischen Blick in die Zukunft

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Der demografische Wandel hat ein ähnliches Problem wie der Klimawandel. Sobald die Sprache darauf kommt, hört kaum noch jemand zu. Den Sättigungseffekt sollte man allerdings tunlichst überwinden. Denn, und das betonte Prof. Meinhard Miegel mehrfach, die Veränderungen, die in den kommenden Jahrzehnten auf uns zukommen, sind für unsere Gesellschaft komplett neu und auch weltweit ohne Vergleichsmöglichkeit. Dennoch wolle das Ausmaß der Veränderungen niemand wirklich wahr haben. Ein klassisches Phänomen der Verdrängung.

Meinhard Miegel, Autor des heißdiskutierten Bestsellers „Epochenwende“, hatte zu den 9. Potsdamer Begegnungen des deutsch-russischen Forums ein derart beklemmendes Szenario entworfen, dass es in der Runde in der Staatskanzlei recht still geworden war. Denn nach Miegels Prognosen werde sich in den kommenden Jahrzehnten der Anteil der unter 20-jährigen an der Bevölkerung halbieren, der der über 60-Jährigen verdoppeln, der über 80-jährigen verfünffachen und der über 90-jährigen sogar verhundertfachen. Mit den entsprechenden Konsequenzen für das Sozial- und Rentensystem sowie ethische Fragestellungen. „Sie haben diese Zahlen sicher nicht richtig verstanden“, sagte Miegel, als keine Reaktion aus der Konferenzrunde kam. Miegel konkretisierte: Bei einer Bevölkerung von rund 75 Millionen Deutschen wären das im Jahr 2045 rund achteinhalb Millionen Menschen, die älter sind als 80 Jahre, etwa 1,6 Millionen über 90 Jahren und rund 150 000 über 100-Jährige. Mädchen, die heute geboren werden, haben nach demografischen Prognosen eine Lebenserwartung von rund 100 Jahren.

„Es ist die Erfüllung unseres Lebenstraums vom langen Leben“, sagte Miegel. „Aber wir sind nicht darauf eingestellt.“ Nun müssten wir lernen, damit umzugehen, in einer Gesellschaft zu leben, in der hauptsächlich alte Menschen leben.

Und während die Folgen der Zunahme der Lebenserwartung heute stark unterschätzt würden, sinke die Zahl der Geburten. Der Rückgang der Geburtenzahlen sei allerdings schon älter als mancher denkt. Die letzte Generation, die sich komplett reproduzieren konnte, errechnet Miegel Ende des 19. Jahrhunderts. „Es ändert sich nur die Lebenserwartung, während die Geburtenrate sinkt“, betonte Miegel. Parallel zur Alterung der Gesamtbevölkerung altere auch die Erwerbsbevölkerung. Da es für diesen Prozess weder historische noch internationale Präzedenzfälle gibt, sei ihr Ausgang ungewiss. Die Entwicklung in Deutschland sei heute schon auch in den meisten anderen europäischen Staaten zu beobachten. Mitte des Jahrhunderts werde sie, so Miegels überraschender Schluss, auch weltweit einsetzen.

Fraglich bei dieser Entwicklung sei für Deutschland vor allem, ob in einer stark gealterten Gesellschaft das wirtschaftliche Wachstum den selben Stellenwert haben werde wie bisher. Und dies bei einer globalen Verschiebung: „Die Europäer werden ihre bislang dominierende Stellung schrittweise einbüßen, andere Völker und Volkswirtschaften werden zu ihnen aufschließen“. Die alternde Bevölkerung werde einem zunehmenden Konkurrenzdruck ausgesetzt sein.

Ob diese Konkurrenz gerade aus Russland kommen wird, ist nach der Potsdamer Konferenzrunde allerdings mehr als fraglich. Denn hier gibt es, wie Michail Denisenko (Moskauer Hochschule für Ökonomie) ausführte, ebenfalls einen starken Rückgang der Bevölkerung. Allerdings ist das Problem der geringen Geburtenraten in Russland mit einer steigenden Sterblichkeit vor allem unter den Männern im berufstätigen Alter gepaart. Laut Denisenko eine Folge zu etwa gleichen Teilen von Alkoholmissbrauch, Kriminalität, Unfällen und einer hohen Selbstmordrate. Wobei man durchaus die These aufstellen kann, dass all diese Faktoren etwas mit dem, wie Sozialwissenschaftler Alexej Levinson (Lewada Zentrum) es formuliert, „nordischen Trinkverhalten“ zu tun haben.

Hinzu komme, so Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, dass seit Beginn der Ära Putin rund vier Millionen Menschen früher verstorben seien, als unter Gorbatschow. „Es ist zu beobachten, dass das Gesundheitssystem in Russland erodiert.“ Allerdings sei für das riesige Flächenland Russland die Erfahrung, dass sich ganze Landstriche entvölkern, im Gegensatz zu Deutschland „nichts Neues“.

Harsche Kritik an der russischen Politik kam dann von dem Sozialgeograf Pawel Poljan (Universität Freiburg). Zum einen habe man in Russland die Folgen des demografischen Umbruchs bislang noch überhaupt nicht erkannt. Die Regierung gehe von unrealistisch hohen Geburtenraten aus. „Doch es ist falsch, auf die Geburtenrate zu setzen, viel wichtiger ist eine Absenkung der Sterblichkeitsrate“, so Poljan. Und vor dem Potenzial der Arbeitsemigranten versperre sich Putins Russland vollkommen. Gegenüber Ausländern fehle es ebenso an Toleranz wie gegenüber den älteren Bürgern.

Dass Europa in diesem Jahrhundert zu einer Art Museum wird, das wolle man auf keinen Fall, hatte Brandenburgs Wissenschaftsministerin Johanna Wanka (CDU) zu Anfang der Konferenz betont. Allerdings bedarf es offensichtlich einem viel größeren Einsatz, das Problem zu bewältigen, als bislang angenommen. Und ob Städte für Alte,wie sie nun in den USA und Niederlanden errichtet werden sollen, die Lösung sind, daran gab es doch reichlich Zweifel.

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