Landeshauptstadt: „Ein klassisches Paradoxon!“
Philipp Maaß über die architektonische Moderne und den städtebaulichen Wert von Rekonstruktionen
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Herr Maaß, Sie haben sich in Ihrer Dissertation „Die moderne Rekonstruktion“ mit dem Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland beschäftigt. Wie kamen Sie dazu?
Das Interesse besteht seit meiner Jugend. Mir fiel auf, dass es etwas völlig anderes ist, durch Städte in Frankreich, Italien oder auch Österreich zu laufen als durch deutsche Städte. Schon damals kam bei mir die Frage auf, warum das so ist und warum man nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg die deutschen Städte so und nicht anders wiederaufgebaut hat.
Sie haben in Ihrer Doktorarbeit die Städte Potsdam, Dresden und Frankfurt/Main verglichen. Warum gerade diese drei?
In Deutschland gibt es nur diese drei Beispiele. Ich beschäftige mich ja nicht mit der Rekonstruktion von Einzelbauwerken, sondern von ganzen Stadtteilen. Dennoch war der Ausgangspunkt der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden. Dort musste man sich anschließend fragen, wie man das Kirchenumfeld gestaltet, was also mit den Brachen drumherum passiert. Dresden war wiederum Vorbild für Frankfurt und Potsdam. Die Frauenkirche war also der Katalysator für die Entwicklung in allen drei Städten.
Was unterscheidet Potsdam städtebaulich im Vergleich etwa zu Dresden?
In Potsdam ist trotz des verheerenden Luftangriffs vergleichsweise viel erhalten geblieben. Zum Beispiel sind die Brandenburger, Charlotten- oder die Yorckstraße geeignete Anknüpfungspunkte für einen nachhaltig positiven Städtebau. Nach der Wende war klar, dass es in Potsdam fast schon ausreichen würde, in die Monumentalarchitekturen von Stadtschloss und Garnisonkirche zu investieren, um den städtebaulichen Halt wiederherzustellen und somit den Anstoß für den Wiederaufbau der Mitte zu geben.
Wie bewerten Sie die Diskussion um Rekonstruktionen in Potsdam?
Die theoretische Diskussion in Potsdam hebt sich in einigen Punkten ab von der in den anderen Städten. Das liegt daran, dass die Expertenschaft, also etwa die School of Architecture an der FH, differenzierter denkt als in den anderen Städten. Dort gibt es Lehrende, die Wert auf eine traditionelle Moderne legen. Die Fronten zwischen Experten, Politikern und Bürgerschaft sind in Potsdam dadurch weniger verhärtet.
Sie schreiben in Ihrer Arbeit, dass die allgemeine Gültigkeit der traditionellen Architektur nicht getilgt werden konnte. Was meinen Sie damit?
Es gibt unter der großen Mehrheit der Architekten einen demokratieabträglichen Absolutheitsanspruch, der inhaltlich besagt, dass moderne Architektur abstrakt und reduziert sein muss, dass es etwa keine Gesimse geben darf oder keine Profilierung der Fassade. Dieser wird von großen Vereinigungen wie dem Bund Deutscher Architekten (BDA) oder dem Werkbund immer wieder postuliert. Nun existiert die dadurch fast zwangsläufige Kisten- und Kubenarchitektur schon seit fast einhundert Jahren, nur dass Sichtbeton jetzt manches Mal durch Glas ersetzt wird. Genau genommen wird mit der abstrakt-modernen Architektur durch dieses ständige Wiederholen bekannter Formen Historisierung betrieben, also das, was man denjenigen, die sich für traditionelle Architektur oder gar Rekonstruktionen aussprechen, oft mit den Schlagwörtern „Lüge und Fälschung“ vorwirft. Die Rekonstruktionsausstellung 2010 in der Pinakothek der Moderne in München hat aber gezeigt, wie selbstverständlich die bauliche Rekonstruktion oder die Neuaneignung historischer Architekturen zur Menschheitsgeschichte gehört.
Sie stellen die These auf, dass die abstrakt-reduzierte Moderne nicht dem menschlichen Schönheitsempfinden entspricht. Woran machen Sie das fest?
Das ist zum einen eine persönliche Beobachtung, zum anderen gibt es auch Umfragen zu dem Thema. Und auch die Existenz der bürgerlichen Vereine, die sich für Rekonstruktionen einsetzen, sind ja ein Indiz dafür. Wenn man Menschen – auch solche, die sich vielleicht nicht eingehender mit Architektur auseinandersetzen – verschiedene Alternativen etwa in Form von Visualisierungen anbietet, spricht sich die Mehrheit für die traditionellere Gestaltung aus. Das zeigt doch, dass da etwas ist, was über das bewusste Wissen des Einzelnen hinausgeht. Die klassischen objektiven Schönheitsideale der Antike und der Renaissance sind mathematisch nachgewiesen und eben tief im Menschen verankert.
Stellen Sie also die abstrakte Moderne komplett infrage?
Nein, sie hat ihre Existenzberechtigung, und ich kann den einen Absolutheitsanspruch nicht durch einen anderen ersetzen wollen. Aber aus meiner Sicht liegt ihre Stärke eher in Einzelbauwerken begründet, nicht in der Prägung ganzer Stadtteile. Die Stärke unserer Demokratie aber steht und fällt mit der Pluralität innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Fachdisziplinen. Ich denke, dass die bisherige Durchsetzung des Absolutheitsanspruchs für eine architektonische Moderne, die sich in Abstraktion und Reduktion erschöpft, damit selbst beschneiden und stetig wiederholen soll, gerade das beschwört und begründet, was ihre Vertreter doch zu einhundert Prozent ablehnen: den Wunsch nach der Rekonstruktion. Ein klassisches Paradoxon!
Sie bezweifeln auch die Wirtschaftlichkeit abstrakt-moderner Bauten? Inwiefern?
Es wird ja ständig von Nachhaltigkeit gesprochen. Doch wenn die Akzeptanz für die abstrakte Moderne der jeweiligen Epoche fehlt, reißt jede Generation die Bauten der vorangegangenen wieder ab: eine unglaubliche Verschwendung von finanziellen wie baulichen Ressourcen in einer insgesamt schrumpfenden und alternden Gesellschaft.
Apropos Abriss, in Potsdam wird heftig über den Abriss des Hotel Mercure debattiert. Würde es nicht der Nachhaltigkeit widersprechen, das zu tun?
Eine Gesellschaft muss die Kraft haben, zu entscheiden, was nachhaltige städtebauliche und architektonische Leistungen sind und was eben nicht.
Das Mercure ist es aus Ihrer Sicht wahrscheinlich nicht?
Nein, ich denke, das Hotel wirkt städtebaulich sehr destruktiv. Es steht völlig bezugslos zur Innenstadt und zerstört die ehemals angelegten Sichtachsen. Als positives Beispiel würde ich dagegen die Neubauten an der Alten Fahrt anbringen. Neben dem Leitbau des Palais Barberini gibt es Fassadenrekonstruktionen und Neugestaltungen in einer traditionelleren und abstrakteren Moderne. Durch die funktionale Kleinteiligkeit bleiben diese Bauten langfristig flexibel nutzbar und zudem in ihrer Gestaltung dem Alten Markt und seinem Schloss angemessen.
Haben Sie sich auch mit dem Streit um den Synagogenneubau beschäftigt?
Ja, am Rande. Das ist so ein klassisches Konfliktmuster. Ich glaube, dass das Gebäude längst stehen würde, wenn man die Gestaltung stärker an den klassischen Synagogenbau sowie an das unmittelbare Bürgerhausumfeld angelehnt hätte. Auch den Rekonstruktionsvorhaben in den Altstädten von Dresden und Frankfurt gingen ja jeweils abstrakt-moderne Architekturplanungen voraus, die von honorigen Wettbewerbsjurys prämiert worden waren. In der Möglichkeit ihrer Realisierung führten diese erst zur Gründung der Rekonstruktionsvereine.
Was ist denn Ihr Fazit? Wie lassen sich diese Konflikte lösen?
Meiner Meinung nach müssen die Bürger stärker an der Auswahl von Architekturentwürfen beteiligt werden. Sie sind gezwungen, mit den Ergebnissen jeden Tag zu leben. In diesen Verfahren sollte möglichst eine breite Auswahl an architektonischen Richtungen von traditionell-modern bis abstrakt-modern vertreten sein. Zudem muss sich die Politik stärker einbringen und klare Vorgaben machen, was städtebaulich und architektonisch geschehen soll. Ich finde, Potsdams Baubeigeordneter Matthias Klipp ist da ein gutes Beispiel. Er nimmt seine Aufgabe als Städtebauer ernst und macht konsequente Vorgaben. Das Leitbautenkonzept ist vorbildhaft, auch wenn viele Architekten meinen, ihre Kreativität würde unzulässig beschnitten. Tatsächlich basieren die meisten Städte, die wir in Europa so bewundern, auf diesen Vorgaben. Die Politik darf diese hoheitliche Staatsaufgabe nicht an die heute so einseitig ausgerichtete Expertenschaft delegieren, sondern muss selbst aktiv sein – sie soll ja den Willen der Bürgerschaft abbilden. Der jüngst verstorbene große Publizist und Verleger Wolf Jobst Siedler sah „die große Misere des Nachkriegsbauens in der Umkehrung dieses Verhältnisses“. Ideen, Pläne und Stadtgestaltungen zur Findung ausschließlich an Wettbewerbsjurys mit bekannter Zusammensetzung zu vergeben, wirkt im Ergebnis ungefähr so, wie wenn Pharmaunternehmen die Gesetze für die Gesundheitspolitik schreiben.
Das Interview führte
Katharina Wiechers
Philipp Maaß (33) hat in Passau studiert und an der TU Dresden promoviert. Jetzt ist er wieder in seiner Heimatstadt Cuxhaven, wo er den väterlichen Omnibusbetrieb übernimmt.
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