
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Ein Prozess als Farce
Ernst-Friedrich Wirth wurde vor über 60 Jahren in Potsdam zum Tode verurteilt. Am Mittwoch war er in der Leistikowstraße zu Gast.
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Er hat Glück gehabt. Sogar großes Glück. Ein „Würfelspiel“ sei es gewesen, dem er sein Leben verdanke. Ja, es war ein Spiel auf Leben und Tod. Über 60 Jahre ist das inzwischen her. Ernst-Friedrich Wirth war 19 Jahre jung, als er 1952 in die Fänge der Sowjets geriet. Zwei seiner Kameraden starben in der Butyrka, einem berüchtigten Gefängnis in Moskau. Sie wurden hingerichtet, weil sie im thüringischen Meuselwitz als Mitglieder eines Gesprächskreises gegen Ende der 1940er -Jahre ihre Ideen für Veränderungen in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise in der jungen DDR diskutierten. Auch Wirth war Mitglied des Meuselwitzer Kreises gewesen. Auch er saß deswegen in der Butyrka ein. Ebenso wie die anderen beiden Mitglieder des Gesprächskreises hatte auch ihn ein sowjetisches Militärtribunal in Potsdam zum Tode verurteilt. Doch man begnadigte Wirth in Moskau. Das bedeutete: Ab nach Workuta zur Zwangsarbeit.
Warum er weiterleben durfte, die anderen beiden Mitglieder sterben mussten, dafür habe er in den Jahrzehnten danach keine rationalen Gründe gefunden, berichtete Wirth auf einer Veranstaltung in der Gedenkstätte Leistikowstraße am vergangenen Mittwochabend. Der heute 82-jährige Kölner hat nur eine einzige Erklärung: „Das war ein reines Würfelspiel.“ Im April 1952 hatte man ihn an seiner Arbeitsstelle verhaftet, einem Chemiebetrieb in Böhlen. Am nächsten Tag ging es für ihn nach Potsdam. Wirth kam in das Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Militärspionageabwehr im „Militärstädtchen Nummer 7“ nahe dem Neuen Garten. Ihm und den anderen beiden Mitgliedern der Gruppe sowie einem weiteren Angeklagten wird im Sommer 1952 der Prozess gemacht. Ein kurzer Prozess. „Das war so eine lächerliche Farce“, sagt Wirth heute. „Es kam einem wie Theater vor.“ Und selbst, nachdem die Todesurteile gegen die vier Angeklagten verkündet waren, hätten er und seine Mitangeklagten nicht geglaubt, dass die verhängten Strafen wirklich vollstreckt werden könnten. Man habe angenommen, die Sowjets würden die Verurteilten doch eher lebend gebrauchen können – nämlich als Arbeitskräfte.
Noch in Potsdam schrieben er und die anderen Verurteilten ihre Gnadengesuche. Er habe ein völlig opportunistisches Gnadengesuch verfasst, eines mit gespielter Reue und großer Entschuldigungsgeste. Jahrzehntelang vermutete Wirth, diese geschauspielerte Unterwürfigkeit habe ihm das Leben gerettet. Doch nach dem politischen Zusammenbruch des Ostblocks konnte Wirth auch die Gnadengesuche der hingerichteten Kameraden lesen: Er fand darin genauso viel Opportunismus.
Verurteilt wurde Wirth wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“, „Zugehörigkeit zu einer feindlichen Gruppe“ und „Spionage“. Dabei habe er nur mit Gleichgesinnten über mögliche politische Veränderungen diskutiert. Auch Flugblätter hätten sie herstellen wollen. Aber dafür habe das Papier gefehlt.
Wirth gehörte zu den Zehntausenden Deutschen in der Sowjetunion, die infolge der Verhandlungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) mit der sowjetischen Parteiführung aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Adenauer hatte – auf Einladung der Sowjets – im September 1955 in Moskau über die Freilassung der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten verhandelt. Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges warteten noch immer viele Familien in Ost und West auf die Heimkehr ihrer Söhne und Ehemänner, die als Soldaten in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Aber auch die sogenannten Zivilinternierten wie Wirth hofften auf Entlassung.
Der Osteuropa-Historiker Sebastian Nagel, der auf der von Alfred Eichhorn moderierten Veranstaltung in der Leistikowstraße die Erlebnisse von Zeitzeuge Wirth historisch einordnete, verwies auf Forschungen seiner Zunft, wonach die Sowjets bereits vor Beginn der Verhandlungen mit Adenauer beschlossen hatten, die gefangenen Deutschen freizulassen. Es sei nur noch darum gegangen, den Preis möglichst hoch zu treiben. Die Sowjetunion wollte diplomatische Beziehungen mit Bonn aufnehmen und wirtschaftliche Kontakte knüpfen.
Für Ernst-Friedrich Wirth hatte die Lagerzeit in Workuta und anderen Orten Anfang 1956 ein Ende. Am 12. Januar wurde er in die Bundesrepublik entlassen. Im Jahre 1996 rehabilitierte ihn die russische Generalstaatsanwaltschaft.
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