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Der Potsdamer Zeithistoriker Hans-Hermann Hertle über die Hintergründe des Mauerbaus, die Folgen und neue historische Quellen
Stand:
Herr Hertle, am 15. Juni 1961 sagte der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, noch: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Keine zwei Monate später wurde damit begonnen. Eine dreiste Lüge?
Vordergründig ja, denn auf dem Ausspruch lastet ja der Fluch der späteren Tat. Das Dementi offenbart, dass eine Mauer bereits Mitte Juni 1961 zumindest als eine Möglichkeit angesehen wurde, um den Flüchtlingsstrom aus der DDR zu unterbinden. Wir wissen aber auch, dass es dafür zu diesem Zeitpunkt noch keine Zustimmung Moskaus gab. Und wir wissen, dass eine Mauer nicht Ulbrichts bevorzugte Variante war.
Sondern?
Die Zielsetzung des sowjetischen Partei- und Regierungschefs Nikita Chruschtschow und von Ulbricht war in diesen Jahren viel weitergehender, als nur die Sektorengrenzen abzuriegeln. Ihr Ziel war es, über einen sogenannten Friedensvertrag die Westmächte aus Berlin zu vertreiben, West-Berlin in eine „Freie Stadt“ umzuwandeln und unter ihre Kontrolle zu bekommen. Bei einer Verweigerung von Verhandlungen darüber drohte Chruschtschow in seinem Ultimatum vom November 1958, der DDR die Kontrolle über die Zugangswege nach Berlin zu Lande, Wasser und Luft zu übertragen. Darauf spekulierte Ulbricht, denn das wäre für ihn das perfekte Mittel gewesen, den Flüchtlingsstrom zu unterbinden, ohne Stacheldraht oder Mauer. Dann hätte Flüchten keinen Sinn mehr gemacht, weil die Menschen ohne die Erlaubnis der DDR aus West-Berlin nicht mehr in die Bundesrepublik hätten reisen können.
Hatte die Staatsmacht der DDR vor dem Hintergrund des Flüchtlingsstroms überhaupt eine Alternative zu der Abriegelung?
Der Flüchtlingsstrom war nicht naturgegeben, sondern schon seit den frühen 50er Jahren eine Reaktion auf die diktatorische Politik der SED. Diese Politik hätte ja geändert und menschenfreundlicher gestaltet werden können. Der große Flüchtlingsstrom, der seit Anfang 1960 beständig anschwoll, war maßgeblich verursacht durch die unsinnige Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Bauern wurde ihr Land geraubt, Eigeninitiative erstickt, Eigentümer proletarisiert. 1960 sind 200 000 Menschen überwiegend aus diesen und anderen politischen Gründen aus der DDR geflohen. Eine weniger repressive Politik wäre eine Alternative gewesen. Die hat sogar die sowjetische Führung des Öfteren von Ulbricht gefordert. Doch mit seiner rabiaten Unterdrückungspolitik trieb er die Menschen geradezu scharenweise aus der DDR.
Repression und Mauerbau waren also die einfachste Lösung.
Mit Sicherheit die primitivste und zugleich brutalste Lösung. Letzten Endes hat Ulbricht der DDR damit mehr Probleme eingehandelt, als er gelöst hat. Denn die Sperranlagen glichen ja anfangs – wie Willy Brandt damals auch sofort feststellte – Umzäunungen von Konzentrationslagern. Die Einsperrung der Bevölkerung war eine unglaubliche Bankrotterklärung für den „Sozialismus“. Und vor allem auch eine politische Niederlage, weil die ursprüngliche Zielsetzung, West-Berlin in eine „Freie Stadt" umzuwandeln und die Westmächte hinauszutreiben, nicht erreicht wurde. Die dauerhafte Anwesenheit der Westmächte und ihrer Truppen in Berlin wurde zu einem wichtigen Faktor der Überwindung der Teilung. Wegen Berlin mussten die Deutschen untereinander und die West-Alliierten auch mit der Sowjetunion im Gespräch bleiben. Das war ein entscheidender Unterschied etwa zur Teilung von Korea, wo die Kommunikation zwischen beiden Teilen vollständig abbrach.
Insofern lag im Mauerbau schon das Ende der DDR begründet, auch wenn es bis dahin recht lang dauerte.
Ohne Mauer wäre die DDR schon 1961 zusammengebrochen. Insofern hat der Mauerbau zunächst einmal die DDR stabilisiert. Die Menschen konnten nicht mehr flüchten, sie mussten sich anpassen, sich irgendwie arrangieren. In SED-Kreisen – und besonders unter „Kulturschaffenden“ – gab es die Hoffnung, dass ohne den Druck des Flüchtlingsstroms nun eine liberalere Politik unter Ulbricht einsetzen würde. Aber diese Hoffnungen wurden sehr schnell enttäuscht. Es blieb bei dem preußischen Kasernen-Kommunismus.
Mit den Jahren verstetigte sich die Mauer.
Die SED hatte fortan die Mauer ständig im Kopf. Einmal mit einer Absperrung begonnen, wurde eine permanente Perfektionierung nötig, weil immer noch Menschen Schlupflöcher fanden. Was dazu führte, dass unzählige Sitzungen des Politbüros und der Bezirks- und Kreisleitungen, der Armee, der Stasi und der Volkspolizei nur um die Frage kreisten, wie man diese Absperrung noch dichter machen könne.
Heute weiß man, dass der Mauerbau einen ziemlich langen Vorlauf hatte.
Erste Planungen, die auf die Abriegelungen Berlins hindeuten, stammen bereits aus den 50er Jahren. Ulbricht hat 1952 beim Abriegeln der innerdeutschen Grenze schon gefordert, auch Berlin dichtzumachen. Damals wurden auch die infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen, etwa der S-Bahn-Außenring vervollständigt, die Strom- und Telefonnetze getrennt, Verkehrswege unterbrochen. Ulbricht hat bereits in den 50er Jahren auf solche Maßnahmen gedrängt, er wurde von Chruschtschow aber zurückgehalten. Der hatte die DDR als „Schaufenster des Sozialismus“ im Blick, das auf den Westen anziehend wirken sollte. Stacheldraht passte in diese Vorstellung zunächst nicht hinein.
Der eigentliche Mauerbau begann gar nicht am 13. August.
Am 13. August wurden zunächst erst einmal die Sektorengrenzen mit Stacheldrahtsperren abgeriegelt. Vom Bau einer Mauer kann man erst ab der Nacht vom 17. zum 18. August sprechen, als in Kreuzberg und am Potsdamer Platz Betonplatten und Hohlblocksteine aufeinander geschichtet wurden.
Aus der Sicht von heute scheint es nahezu unglaublich, dass der Mauerbau ohne Volksaufstand vonstatten gehen konnte.
Die Abriegelung erfolgte überraschend, fand mitten in den Sommerferien statt und begann auch noch in der Nacht von einem Samstag auf einen Sonntag. Die Aktion war militärisch hervorragend vorbereitet. Es waren insgesamt mindestens 20 000 bewaffnete Kräfte im Einsatz. So konnte dieser Überraschungscoup damals gelingen.
Aus heiterem Himmel?
Es lag schon vorher etwas in der Luft. Die Fluchtbewegung war in den Tagen zuvor extrem angestiegen. Es kamen täglich mehr als 2000 Menschen nach West-Berlin. Aber viele konnten nicht glauben, dass es möglich sei, eine Großstadt wie Berlin zu teilen. Als es dann passierte, glaubten viele wiederum nicht, dass das von Dauer sein könnte. Den meisten fehlte schlichtweg das Vorstellungsvermögen für so etwas.
Und es gab kein Aufbegehren?
Das gab es schon, aber an vielen Stellen in Ost-Berlin waren Panzer postiert – als Einschüchterungskulisse. Menschenansammlungen wurden sofort aufgelöst; wer protestierte oder auch nur schimpfte, wurde festgenommen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1961 sind fast 10 000 Menschen verhaftet worden. Statt Widerstand herrschten unter diesen Bedingungen Ohnmacht und Resignation vor.
War die Grenze sofort vollkommen dicht?
In den ersten Tagen nach dem 13. August sind noch viele Fluchten geglückt. Die SED hat darauf mit dem Schießbefehl auf Flüchtlinge, im SED-Jargon „Grenzverletzer“, reagiert. Das erste Todesopfer des Schießbefehls war bereits am 24. August zu beklagen, als Günter Litfin hinterrücks im Humboldthafen nahe der Charité erschossen wurde. Der Schießbefehl wirkte zusätzlich abschreckend.
Auch der Westen war vom Mauerbau überrumpelt worden?
Nein, das Anschwellen des Flüchtlingsstroms war im Westen schon mit der Einschätzung verbunden, dass mit Gegenmaßnahmen der DDR zu rechnen sei. Die westlichen Geheimdienste hatten zudem Informationen, dass eine Abriegelung vorbereitet wurde. Sie kannten nur das genaue Datum nicht.
Wie erklärt sich die Zurückhaltung der Westmächte?
Die Westalliierten hatten sich vor weitergehenden Maßnahmen gefürchtet, etwa dass ihnen wie bei der Luftblockade 1948/49 der Zugang zu Berlin verwehrt werden könnte. Eine solche Einschränkung und Verletzung ihrer Rechte hätte zu einer militärischen Konfrontation führen können. Insofern hielten sie sich nicht nur zurück, sondern waren sogar erleichtert, dass stattdessen „nur“ die Sektorengrenzen abgeriegelt wurden. Es ist eine ungeheure Diskrepanz festzustellen zwischen der weltpolitischen Erleichterung in Washington, Paris und London und der Dramatik und Tragik der Teilung für die meisten Menschen besonders in Berlin.
Wieso hat der Westen nicht eingegriffen?
Es gab Vorschläge bei der Nato, aber auch in der Kennedy-Administration, mit Panzern und Wurfankern den Stacheldraht niederzureißen. Doch Kennedys engste Berater rieten davon ab. Ihr Argument: Dahinter würde dann nur einige Meter zurück eine neue Befestigung errichtet. Wollte man auch diese beseitigen, und dann vielleicht auch noch die darauf folgende, würde man irgendwann zu weit auf östliches Gebiet vordringen müssen. Das hätte in eine kriegerische Situation münden können – und einen Krieg beginnen wollte niemand im Westen.
Welche neuen Erkenntnisse haben die Zeithistoriker heute zum Mauerbau?
Die Arbeit der amerikanischen Historikerin Hope M. Harrison ragt aus den zahlreichen Neuerscheinungen zu dem Thema hervor. Sie hatte für kurze Zeit Zugang zu Dokumenten in sowjetischen Archiven, die heute wieder gesperrt sind. Sie konnte damit nachweisen, wie lange und intensiv Ulbricht Chruschtschow bedrängt hat, die Sektorengrenzen abzuriegeln. Die vorherrschende Geschichtsschreibung, die alle maßgeblichen Entscheidungen im Kalten Krieg ausnahmslos Washington und Moskau zuschreibt, wird dadurch relativiert. Es gibt auch neue sowjetische Quellen, die belegen, wie intensiv ostdeutsche und sowjetische Stellen in der Phase unmittelbar vor dem Mauerbau zusammengewirkt haben. Es gibt eine Vielzahl neuer Details, aber keine historische Neubewertung des Mauerbaus.
In der Erinnerung manifestiert sich heute ein recht gleichförmiges Bild der Architektur der Mauer.
Die Mauer sah nie gleich aus. Sie war immer eine Mischung verschiedener Baustufen. Es standen bis zum Schluss Mauerteile aus den Anfängen des Mauerbaus neben den industriell gefertigten Betonsegmenten, Wachtürmen sowie den elektronischen Signalzäunen der 70er und 80er Jahre. In der Bernauer Straße fungierte sogar noch bis Ende der 70er Jahre das erste zugemauerte Stockwerk der abgerissenen Gebäude als Außenmauer. Erst 1980 wurden auch hier die 3,60 Meter hohen Betonelemente mit Rohrauflage installiert. Die Mauer wurde vor allem immer dort erneuert, wo es wiederholt zu Fluchten gekommen war. So kostete die tödliche Brutalität dieser Grenzbefestigung und der Schießbefehl schließlich mindestens 136 Menschen an der Berliner Mauer das Leben.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
Von Hans-Hermann Hertle ist zuletzt erschienen: „Die Berliner Mauer - Biographie eines Bauwerks“, Ch. Links Verlag 2011, 4,90 Euro
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