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Homepage: Entschlüsselte Botschaften
Wissenschaftler des ZZF und der Universität Potsdam unterstützen ein Geschichtsprojekt des Malteser Treffpunkts Freizeit
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Lange wollten die Eltern ihren Sohn nicht gehen lassen. Zu ungewiss schien ihnen sein Schicksal – allein in einem fremden Land. Nach der Reichspogromnacht aber war klar, dass der Junge als Jude in Deutschland keine Zukunft haben würde. 14-jährig floh Fred Zeller nach Holland. Kurze Zeit später folgte ihm auf demselben Wege seine erst 12-jährige Schwester Lilian. Beide retteten sich nach England, von wo sie später in die USA emigrierten.
Was die Kinder auf ihrer Flucht erlebten, dokumentieren Briefe und Tagebücher, die die in Deutschland aufgewachsene, jetzt in Israel lebende Kulturwissenschaftlerin Orly Selinger für ihre Dissertation sichtete. Auf Einladung des Deutschen Kulturforums östliches Europa kam sie in der vergangenen Woche zum Holocaust-Gedenktag nach Potsdam, um im Malteser Treffpunkt Freizeit vor Schülern über ihre Forschungen zum Leben jüdischer Kinder im „Dritten Reich“ zu sprechen.
Es war zugleich der Auftakt zu einem Geschichtsprojekt, das der Malteser Treffpunkt Freizeit gemeinsam mit Historikern, Zeitzeugen und Experten organisiert hat, um Schülern die Zeit des Nationalsozialismus und die Nachkriegsgeschichte näher zu bringen. Nicht nur das Kulturforum, sondern auch das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) und die Universität Potsdam beteiligen sich daran. Projektleiterin Mirjam Schneider hat vor allem solche Referenten in das Programm aufgenommen, die wie Orly Selinger historische Zusammenhänge kindgerecht vermitteln können. Dabei geht es ihr nicht so sehr um Fakten; vielmehr sollen authentische Berichte helfen, die einstige Lebenswirklichkeit zu verstehen.
Die anrührenden, oft von einfachen Dingen erzählenden Briefe, die Orly Selinger den Schülern als Kopie in die Hand gab, sind solche Zeugnisse. Sorgfältig „gemalte“ Buchstaben, teils in Sütterlin, und die kindliche Erzählsprache mit geheimnisvollen Andeutungen schaffen jene Vertrautheit, ohne die wirkliche Empathie nicht möglich wäre. Mitunter hatten die jüdischen Kinder ihre Botschaften kodiert, indem sie einzelne Worte oder halbe Sätze auf hebräisch schrieben. Einen solchen Brief zu entschlüsseln und dabei zu wissen, welches Schicksal die Betroffenen erwartete, habe sie tief erschüttert, sagte Orly Selinger in ihrem Vortrag.
Die Anteilnahme der Schüler zeigte sich besonders stark in der immer aufs Neue gestellten Frage, warum die Juden denn nicht das Land verlassen haben, als es noch gefahrlos möglich war. „Weil sie in der konkreten Situation, in der sie lebten, nicht wussten, was ihnen bevorsteht“, antwortete die Referentin und traf damit den Punkt, der es Heranwachsenden so schwer macht, sich aus heutiger Sicht und mit dem Wissen um die historischen Ereignisse in die damalige Lage hineinzudenken.
Genau hierbei will das wissenschaftlich unterstützte Geschichtsprojekt des Treffpunkt Freizeit mit seinen Vorträgen, Workshops und Exkursionen helfen. Barbara Rösch vom Institut für Grundschulpädagogik der Universität Potsdam lädt Schüler dazu ein, mit ihr das ehemalige jüdische Kinder- und Landschulheim in Caputh zu besichtigen und dabei etwas über jüdische Erziehung und Reformpädagogik zu erfahren. Enrico Heitzer vom Zentrum für Zeithistorische Forschung wird den Film „Edelweißpiraten“ vorstellen, der an einem Beispiel zeigt, wie Jugendliche im Nationalsozialismus Widerstand leisteten. Und Larissa Marleen Weber vom Moses-Mendelssohn-Zentrum will mit Schulklassen bei einem Stadtrundgang den Spuren jüdischen Lebens in Potsdam folgen.
Sicher wird sie dabei an einigen „Stolpersteinen“ Halt machen, die zum Gedenken an die ermordeten Juden in der Stadt verlegt worden sind. Auch für die Familie von Fred und Lilian Zeller gibt es seit kurzem zwei solcher Steine. In Berlin Spandau erinnern sie an die während des Krieges deportierten Eltern Heinrich und Fanny Zeller, die ihren geflohenen Kindern nicht gefolgt waren. Antje Horn-Conrad
Weiteres im Internet: www.treffpunktgeschichte.de, Anmeldung unter Tel. 0331/50 58 60 23 und schneider@treffpunktfreizeit.de
Antje Horn-Conrad D
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