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Leere Strände. Wer Urlaub in der Türkei gebucht hat, kann ihn durch die verschärften Reisehinweise des Auswärtigen Amtes leichter stornieren, teilweise sogar kostenlos. Bülent Demir zufolge bringen die Hinweise aber wenig, die Regierung hätte lieber direkt auf Erdogan einwirken sollen.

© Marius Becker/dpa

Was halten Türken in Potsdam von Erdogan?: „Erdogan kann nicht machen, was er will“

Umsatzeinbußen und verunsicherte Touristen: Die Potsdamer Wirtschaft und in der Stadt lebende Türken sehen die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei mit Sorge.

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Potsdam - Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist gestört: Politisch schon lange, mittlerweile auch wirtschaftlich, spätestens seitdem das Auswärtige Amt die Reisehinweise für die Türkei verschärft hat. Zu spüren ist dies auch in Potsdam und Brandenburg: „In den ersten fünf Monaten dieses Jahres verringerten sich die Brandenburger Exporte in die Türkei um fast zwölf Prozent von 86 Millionen Euro auf circa 76 Millionen Euro“, sagt Jens Ullmann, Außenhandelsexperte der Industrie- und Handelskammer (IHK) Potsdam. „Die Brandenburger Importe aus der Türkei sanken gar um fast 24 Prozent von 79 Millionen Euro auf 60 Millionen Euro. Neuinvestitionen deutscher Unternehmen in der Türkei liegen bereits seit längerem auf Eis.“

224 Unternehmen in Brandenburg, davon zwölf in Potsdam, pflegen geschäftliche Beziehungen mit der Türkei. Sie gehören zur Textilbranche, exportieren Mess- und Steuerungstechnik oder Medizintechnik, handeln mit Kosmetika oder kommen aus dem Bereich Biotech. Für sie alle kann es künftig schwieriger werden, sagt Ullmann: „In der Abwicklung des Handels berichten Unternehmen zunehmend von Problemen, die es eigentlich in einer Zollunion nicht geben darf.“ So gebe es plötzlich neu eingeführte dokumentäre Erfordernisse oder Erschwernisse und Verzögerungen bei der Abfertigung von Waren an den Grenzen.

Auswirkungen auf die Tourismus-Branche in der Türkei treffen „normale Menschen"

Betroffene Branchen seien landesweit vor allem die Zuliefererindustrie und der Tourismus. Für Reisende, die vor der Verschärfung der Reisehinweise des Auswärtigen Amtes einen Urlaub in der Türkei gebucht haben, ist es derzeit einfacher, diesen zu stornieren, sagt Andreas Baumgart von der Verbraucherzentrale Potsdam: „Bei einigen Reiseveranstaltern kann man mit Hinweis auf ‚höhere Gewalt' eine Türkei-Reise kostenfrei stornieren.“ Baumgart betont jedoch, dass man keine Garantie darauf habe, schließlich handele es sich nicht um eine ausdrückliche Reisewarnung, sondern eben um Hinweise. Trotzdem: „Ganz ausschließen, dass in der Türkei auch gegen Touristen vorgegangen wird, kann man nun mal nicht“, sagt Baumgart und empfiehlt, sich die Reisehinweise genau durchzulesen.

Auch türkischstämmige Potsdamer sind sehr unglücklich über die Auswirkungen auf den Tourismus in der Türkei: „Das alles betrifft ja nicht Erdogan, sondern die normalen Menschen in der Türkei. Ich kenne viele, die vom Tourismus leben“, sagt Bülent „Toni“ Demir, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt und das Restaurant Villa Haacke gegenüber des Jägertores leitet. Die Reisehinweise würden weder den Deutschen noch den Türken etwas bringen. „Besser wäre eine klare Ansage an Erdogan gewesen, statt dieser politischen Spielereien auf dem Rücken der Leute.“

Hoffnung auf Opposition in der Türkei

Ähnlich sieht das Mert Inci, Inhaber des seit 1996 bestehenden First Kebab in der Friedrich Ebert-Straße, das sein Vater viele Jahre lang leitete: „Es ist schade, dass die Türkei in den deutschen Medien gerade so schlecht dargestellt wird.“ Das sei schlecht für die Türken. „Wer selbst da war oder dorthin fährt, wird merken, dass es ein sehr lockeres Land ist, man kann da auch seine Meinung äußern und Erdogan kritisieren.“ Man kann Inci zufolge nicht das ganze Land über einen Kamm scheren: „Man darf nicht vergessen, dass bei dem Referendum über die Einführung des Präsidialsystems fast die Hälfte dagegen gestimmt hat.“

Inci ist selbst kein Erdogan-Anhänger: „Ich finde vieles auch nicht gut, was er macht.“ Bülent Demir wird deutlicher: „Dass sich die Türkei unter Erdogan immer mehr von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten entfernt, ist inakzeptabel.“ Doch trotz aller negativen Entwicklungen bleibt er verhalten optimistisch und hofft auf die große Opposition in der Türkei: „Erdogan kann auch nicht alles machen, was er will. Er riskiert sehr viel“, sagt Demir. „Ich denke, er wird sich wieder beruhigen, schließlich ist er der Präsident aller Türken, er muss beide Seiten verstehen.“

„Es ist sehr traurig, dass sich zwei Partnerländer nun so streiten“

Besonders stört Inci und Demir, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei derzeit so schlecht ist: „Es ist sehr traurig, dass sich zwei Partnerländer nun so streiten“, sagt Demir. „Wir sind wirtschaftlich sehr verbunden, es würde beiden Ländern sehr wehtun, wenn es weiter eskaliert.“ Das findet auch Inci: „Man sollte lieber zusammen arbeiten, statt so stur zu denken.“ Dies würden sogar Erdogan-Anhänger denken: „Ich kenne eine Familie in Potsdam, die für Erdogan ist und auch traurig über die aktuelle Situation.“ Demir bestätigt das: „Sogar viele Erdogan-Anhänger denken, dass er nicht so weit hätte gehen müssen.“

Hintergrund: Mehr Asylanträge aus der Türkei

Die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei hat sich in Brandenburg angesichts des harten Vorgehens der Türkei gegen Regierungsgegner und Kurden verdoppelt. Im Vergleich zu anderen Bundesländern bleiben die Zahlen aber dennoch niedrig. Im ersten Halbjahr dieses Jahres haben 19 Menschen aus der Türkei Asylanträge in Brandenburg gestellt, wie eine Sprecherin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg mitteilte. 17 davon waren nach eigenen Angaben Kurden. Im gleichen Vorjahreszeitraum waren es neun Asylsuchende, acht davon Kurden. Der Umsturzversuch am 15. Juli 2016 hat die Zahlen zunächst kaum steigen lassen. Von Juli bis Dezember vergangenen Jahres suchten 13 Menschen aus der Türkei in Brandenburg Asyl, darunter zwölf Kurden. Ähnlich niedrig waren die Zahlen in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. Bundesweit stellten im ersten Halbjahr 2017 rund 3200 Menschen aus der Türkei Asylanträge. Im zweiten Halbjahr 2016 waren es rund 4000 Menschen. Im gesamten vergangenen Jahr hatten 5742 Türken Asyl in Deutschland beantragt. Die Anerkennungsquote von Asylanträgen von Türken betrug Ende Juni 2017 23,2 Prozent. Im vergangenen Jahr lag sie bei nur rund acht Prozent. dpa

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