Landeshauptstadt: „Es kann jede Stadt treffen“
Wolfram Hülsemann, Rechtsextremismusexperte, über Solidarität, Ohnmacht und Bedürfnis nach Gewalt
Stand:
Herr Hülsemann, im Land Brandenburg sinken die Zahlen von rassistischen Überfällen – aber Potsdam ist seit dem Überfall am Ostersonntag in allen Schlagzeilen. Hat die Stadt ein besonderes Problem mit rechtsextrem motivierter Gewalt?
Ich halte nicht viel von solchen Zahlenspielen. Bei solchen Gewalttaten spielen häufig Zufälle eine Rolle. Von diesem einzelnen Fall aus lässt sich nicht auf die Situation in Potsdam schließen. Es kann jede Stadt treffen – besonders im Osten.
Warum gerade im Osten?
Da wäre eine ganze Fibel von Gründen zu nennen. Unter anderem wurde das Problem Rechtsextremismus und rassistische Einstellungen jahrelang verharmlost oder verschwiegen, schon zu Zeiten der DDR. Vor allem aber braucht es heute noch immer ein stärkeres Klima der Solidarität zu Gunsten der Opfer von Gewalttaten mit konkreten sichtbaren Zeichen. Dass aber ein solcher Vorfall in Potsdam passieren musste, ist besonders bedauerlich, da es gerade in dieser Stadt ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus gibt. Die Potsdamer Kommunalpolitik agierte bisher in dieser Frage geradezu vorbildlich.
Wie wichtig war es, dass am Montag mehr als 400 Menschen in Potsdam spontan gegen Neonazis protestierten?
Die Demo war eine angemessene Antwort auf den Überfall und erfordert im höchsten Maße Respekt. Es war wichtig, dass so schnell ein Zeichen gesetzt wurde.
Was muss nun in nächster Zukunft getan werden?
Das Wichtigste ist natürlich die Aufklärung dieser entsetzlichen Tat. Zudem sollte die Bevölkerung ein hohes Maß an Solidarität mit dem Opfer und seiner Familie zeigen. Gerade der Blick zu den unmittelbar Betroffenen erschüttert über die Maßen. Zudem gilt es, verstärkte Achtsamkeit auf alle von solchen Überfällen gefährdeten Gruppen in der Gesellschaft zu üben. Die beispielhafte Reaktion des Taxifahrers hat gezeigt, worauf es ankommt. Sein Eingreifen hat hoffentlich dem Opfer das Leben retten können.
Was können die Potsdamer konkret tun – angesichts der Tatsache, dass bereits ein in der Stadt geplanter Kongress abgesagt werden soll?
Wir alle müssen uns als Bürger immer wieder gegen Rechtsextremismus und Rassismus artikulieren und dürfen in diesem Engagement nicht nachlassen. Gegen solche Absagen scheint mir die Stadt aber machtlos zu sein: Sie sind ein Zeichen von Erschrecken und Unsicherheit. Doch so verständlich diese Reaktionen menschlich sind: Solche Zeichen können für die Täter eine Bestätigung bedeuten. Es gehört zur demokratischen Verantwortung, jedes Zurückweichen zu vermeiden.
Es gab die Hoffnung, dass die hohen Strafen beim Prozess um den Tram-Überfall abschreckend auf die Szene wirken – helfen solche Urteile also doch nicht?
Das lässt sich nicht abschätzen. Noch ist die Motivlage des Anschlages unklar: Es ist noch nicht klar, ob die Täter überhaupt in der rechtsextremen Szene verankert oder eher Menschen mit einem Bedürfnis nach Gewalt und einem diffusen rassistischen Weltbild sind.
Das Gespräch führte Henri Kramer
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