MEINE Woche: Fernweh
Wie es ist, echtes Fernweh zu haben – viele Menschen erfahren nie den Genuss beziehungsweise die Qualen dieses Drangs, dieser nicht zu bändigenden Sehnsucht. Gebranntmarkt durch die nach der eigenen Freiheit schreiende Jugend ist „Fernweh“ ein Begriff, den man nur noch selten hört – heute, wo alle Welt vernetzt ist und sich mit Yoga und Easy-Life-Kursen ihr übervolles und kurzweiliges Leben noch stressiger macht.
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Wie es ist, echtes Fernweh zu haben – viele Menschen erfahren nie den Genuss beziehungsweise die Qualen dieses Drangs, dieser nicht zu bändigenden Sehnsucht. Gebranntmarkt durch die nach der eigenen Freiheit schreiende Jugend ist „Fernweh“ ein Begriff, den man nur noch selten hört – heute, wo alle Welt vernetzt ist und sich mit Yoga und Easy-Life-Kursen ihr übervolles und kurzweiliges Leben noch stressiger macht. Wenn ich Fernweh höre, denke ich an alte Zeiten, als Völkerscharen am Kai einer irischen Hafenstadt standen und der Neuen Welt entgegensahen. Doch ob Fernweh nun meine jugendlich-rebellische Unabhängigkeitssucht oder ein Charakterzug ist – ihr nachgeben muss ich. So kommt es, dass ich mich in sechs Monaten in einem Flugzeug Richtung amerikanische Freiheit befinde, um dort das nächste Jahr zu leben und mir meine Hörner ein wenig abzustoßen, wie meine Mutter das so sympathisch formuliert.
Obwohl ich erst im vergangenen Oktober mit dem Schreiben von Bewerbungen begonnen habe, war es ein langer Weg, der im Grunde schon vor Jahren begann. Damals, im zarten Alter von acht oder neun Jahren, packte mich diese ungeheure Sehnsucht nach Flughafenluft und unbekannten Wegen und hat mich seit dem nie wieder losgelassen. Doch trotz meiner freudig-gespannten Erwartung wird das Fiebern gen Sommer von Angst begleitet.
Vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief meiner Austausch-Organisation, der die Versicherungsleistungen enthielt. Als ich aber die Möglichkeit der Krankheit, des Unfalls und des Todes finanziell abgesichert wusste, beruhigte mich das keinesfalls. Natürlich weiß ich um derlei Eventualitäten – aber sie handfest ins Gesicht geknallt zu bekommen, zeigte mir einmal mehr, wie unsicher und zerbrechlich Träume und Visionen sind. Zwar sind sie es, die uns am Leben erhalten, die uns nach immer Größerem streben lassen, aber sie zu zerstören, fällt dem Schicksal in vielen Fällen dennoch nicht sonderlich schwer. Was mich allerdings viel mehr beunruhigt als mein eigenes Wohlergehen, ist das der Menschen, die ich zurücklasse. Was, wenn etwas passiert, während ich weg bin? Familienliebende Globetrotter und freiheitssüchtige Familienmenschen sind arme Wesen, deren Schizophrenie im Grunde ihres Wesens begründet liegt. Und was kommt nach dem großen Sturm? Auch wenn ich gerne davon träume, Klein-Potsdam hinter mir zu lassen, muss ich doch zurückkehren, schon allein um irgendwann wieder aufzubrechen. Und ebenso, wie ich mich ändern werde, verändern sich auch alle anderen. Aber nach einem Jahr neu einzusteigen, manche Menschen zu verlieren, während ich einige neu werde kennen lernen müssen, diese Aussicht lastet schwer.
Dennoch, so real diese Ängste momentan auch sein mögen, wenn mich 150 Meter von deutschem Boden trennen, werden sie einem sprudelnden Cocktail weichen. Einem Cocktail aus Erwartung, Spannung und feuriger Erregung.
Johanna Rothmann ist 14 Jahre alt und Schülerin im Gymnasium Hermannswerder. An dieser Stelle berichtet sie bis zum Ende ihrer Reise in die USA in unregelmäßigen Abständen über ihre Erlebnisse.
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