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Lebenslanges Lernen. Finanzminister Christian Görke (Dritter v. r.) im Austausch mit Flüchtlingen, die eine Ausbildung machen oder bald eine beginnen wollen: Einige der jungen Männer würden am liebsten noch ein Studium anschließen.

© Andreas Klaer

Landeshauptstadt: Finanzminister trifft Schnellstarter

Der Fachkräftemangel birgt Risiken für Brandenburg. Christian Görke sieht Flüchtlinge als eine Lösung

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Teltower Vorstadt - Fachkräftemangel und zu wenig Auszubildende auf der einen, arbeitssuchende Flüchtlinge auf der anderen Seite – dass in dieser Gleichung eine Chance für beide Seiten steckt, haben viele erkannt. Brandenburgs Finanzminister Christian Görke (Linke) nannte bei einem Besuch der Potsdamer Arbeitsagentur am gestrigen Mittwoch das eindrucksvolle Beispiel der Landesverwaltung. 47 000 Beschäftige hat diese derzeit, zum Teil Angestellte, zum Teil Beamte. Innerhalb der nächsten fünf Jahre werden davon etwa 9500 in den Ruhestand gehen. „Es ist eine erhebliche Herausforderung, diese Stellen neu zu besetzen“, so Görke, der den Fachkräftemangel als „Achillesferse des Landes“ bezeichnete. Die Geflüchteten könnten hier ein wichtiger Baustein sein. Ein Beispiel hatte er schon parat: In der Finanzverwaltung werde demnächst der erste Flüchtling eine Ausbildung beginnen.

Er ist einer von 350, die landesweit in diesem Jahr Ausbildungsreife erworben haben, also alle Voraussetzungen wie die nötigen Sprachkenntnisse erfüllen. Etwa 60 sind es in Potsdam. 16 von ihnen haben schon einen Ausbildungsvertrag unterschrieben, weitere machen Praktika, um sich für einen Ausbildungsplatz zu qualifizieren. Sechs Flüchtlinge in oder kurz vor einer Ausbildung waren gestern auch in der Arbeitsagentur, um mit Minister Görke zu sprechen.

So auch Abdul Majed Mir aus Afghanistan. In seiner Heimat arbeitete er als Übersetzer für die amerikanische Armee. Seine Flucht führte ihn über Belgien, wo er in einer Tomatenfabrik und als Verkäufer arbeitete, nach Deutschland. Seit Anfang 2014 ist er hier, spricht gutes Deutsch. Nach verschiedenen kleinen Jobs als Kellner und Übersetzer begann er eine sogenannte Einstiegsqualifikation bei der Agentur für Arbeit. Dieses Praktikum ist der gängige Weg von Geflüchteten in eine Ausbildung. So sollen sie fit gemacht werden für den Job. Betrieb und Praktikant können zugleich sehen, ob sie zueinander passen. Bei etwa 60 Prozent von ihnen schließt sich an die Einstiegsqualifikation ein Ausbildungsplatz im gleichen Betrieb an. So auch bei Abdul Majed Mir: Seit vergangenem Jahr lässt er sich bei der Agentur als Fachangestellten für Arbeitsmarkt ausbilden.

Auch in der freien Wirtschaft gibt es Firmen, die Flüchtlinge als Auszubildende einstellen. Bernd Becking, der die Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Arbeitsagentur leitet, berichtet allerdings: „Manche Betriebe haben eine gewisse Scheu.“ Das liege aber weniger an den Flüchtlingen als an der Angst vor der Bürokratie. Aber da beruhigte Becking: Die Arbeitsagenturen böten dabei Unterstützung. Außerdem schützt die sogenannte Drei-plus-zwei-Regelung während der Ausbildung und bei Übernahme noch zwei Jahre danach vor Abschiebung. So müssen Arbeitgeber nicht fürchten, dass ihr Azubi während der Ausbildung ausgewiesen wird.

Die größte Hürde für eine Ausbildung ist oft die Sprache. Ohne ausreichende Deutschkenntnisse gehe nichts, das bestätigten die sechs Geflüchteten, die alle auch langfristig ihre Zukunft in Deutschland sehen. Wajih Al Bunni aus dem Libanon erzählt, dass ihm die Berufsschule, die zu seiner dualen Ausbildung bei einer Potsdamer Elektrofirma gehört, nicht leichtfalle. „Das sind so viele Fachbegriffe“, stöhnt der 30-Jährige. Die Praxis dagegen sei gar kein Problem, schließlich habe er in der Heimat schon eine Ausbildung als Elektroassistent gemacht. Aber der Abschluss wurde, wie in vielen Fällen, in Deutschland nicht anerkannt. Es sei nicht einfach gewesen, sich darauf einzulassen, hier alles noch einmal von vorne zu beginnen. „Ich habe genau das Gleiche doch in Syrien schon einmal gelernt“, sagt der junge Mann. Immerhin konnte er wegen seiner Erfahrung vom ersten direkt ins dritte Lehrjahr springen. Zu schaffen macht ihm aber, dass seine Frau noch immer im Libanon ist. Zwar hat er einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, auf eine Antwort der Ausländerbehörde wartet er aber seit Monaten.

Für Bernd Becking sind die sechs „Schnellstarter“, vor allem aber „leuchtende Beispiele“ – für andere Flüchtlinge, denen sie das sehr deutsche Modell der dualen Ausbildung nahebringen, aber auch für Firmen, denen sie zeigen, dass die Einstellung eines Flüchtlings erfolgreich sein kann. „Viele von ihnen sind hochmotiviert, lernen sehr schnell und wissen die Leistungen unseres Systems hier besonders zu schätzen“, so Becking. Der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt ist da: 2016 konnten landesweit 1800 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden.

Viele Flüchtlinge denken nicht spontan an eine Ausbildung. Viele wollen direkt arbeiten und Geld verdienen. Knapp 300 Geflüchtete sind derzeit in Potsdam arbeitslos gemeldet. 2000 sind landesweit bereits in einem Beschäftigungsverhältnis, rund 550 im Bezirk der Arbeitsagentur Potsdam. Die meisten arbeiten im Hotel- oder Gastronomiegewerbe, in Lager, Logistik, Sicherheit oder Reinigung. Doch Becking legt ihnen eine Ausbildung besonders ans Herz. Denn, so gibt er zu bedenken: „95 Prozent aller Stellen verlangen eine Qualifizierung.“

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