Homepage: Grenzen überschreiten
„Sehsüchte“-Filmfestival zeigt erstmals Jugendfilme. Der Ortswechsel gestaltet sich eher schwierig
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Nach gefühlten zwölf Stunden Filmeschauen kommt man erschöpft am Rande der Wiese vor dem Studiokino zur Ruhe. Um Bilder im Kopf zu sortieren. Zahllose Bilder. Die Wiese vor dem Studiokino liegt friedlich in der Sonne, Vögel zwitschern, kein Mensch weit und breit. Als vor zehn Jahren das Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ hier zum letzten Mal stattgefunden hatte, war die Wiese immer mit Filmemachern bevölkert, gegenüber im Atelier „Neue West“ gab es rund um die Uhr eine Lounge, in der man sich traf.
Heute, nachdem die „Sehsüchte“ nach zehn Jahren Thalia-Kino wieder in der Filmstadt und an der HFF stattfinden, muss man sich durch den Hintereingang ins Studiokino schleichen und zwischen dem Filmgelände und der HFF hin und her hetzen, um die Filmblöcke zu sehen. An der Filmhochschule hat man indes kaum das Gefühl, dass ein Festival stattfindet. Hier und da ein paar Gruppen mit jungen Filmleuten, ob sie zum Festival gehören, lässt sich nicht gleich ausmachen. Die Lounge ist tagsüber menschenleer. Ansonsten Business as usual an der HFF.
Und die Filme? Der Mittwoch startete nach den Kinderfilmen mit zwei starken Jugendfilmblöcken, die erstmals stattfanden. Leider auch hier viel zu wenig Publikum, wo war die Jugend der Stadt, die an diesen Filmen sicher große Freude gehabt hätte? In den Filmen werden Grenzen überschritten. Das, was man eben so macht, wenn man jung ist. „Mitten am Rand“ von Laura Lackmann ist so ein Film. Zwei noch sehr junge Pärchen streifen durch den Tag, kommen zu einem Haus und brechen ein. Charlotte vergnügt sich mit ihrem Freund in dem fremden Ehebett. Dass es das Bett ihrer Eltern ist, dass sie selbst in diesem Haus lebt, erzählt sie ihren Freunden nicht. Überhaupt erfindet sie viele Geschichten, etwa dass ihre Eltern getrennt leben, dass sie misshandelt werde. Doch eigentlich ist in ihrem Leben alles in bester Ordnung. Ihre Freundin Lola hingegen erzählt nicht, obwohl es bei ihr viel kritischer aussieht. Als Charlotte dann schwanger wird, ändert sich so einiges in diesem Gefüge. Ein gut gelungener Film über das Austesten, wie weit man gehen kann und wie man dabei seine eigenen Grenzen kennenlernt.
Ganz ähnlich läuft es in „Fünfsechstel“ von Jonas Marowski. „Wahrheit, Pflicht oder Zitrone ist ein Spiel für dumme Internatskinder, die nichts mit ihrer Zeit anzufangen wissen.“ So hat es Tim vor seinem frühen Tod verfügt. Kurz gesagt: Flaschendrehen mit nahezu unlösbaren Aufgaben. Kann man sich mit verbundenen Augen rückwärts in der Turnhalle von einem Bock fallen lassen, wenn man gehört hat, dass die Matte weggezogen wurde? Das dürfte eine enorme Überwindung kosten. Der junge Schüler macht es, er muss blind darauf vertrauen, dass seine Freunde ihn auffangen werden. Was sie auch tun. Der Junge steht danach kurz vorm Nervenzusammenbruch. Diese Grenzerfahrung löst in ihm aber etwas aus. Er erzählt schließlich seinen Mitschülern, dass Tim nicht bei einem Unfall ums Leben kam, sondern sich das Leben selbst nahm.
In „Nicht den Boden berühren“ von Mia Spengler muss sich die 15-jährige Fila in einer Clique einer Problemschule behaupten. Dafür muss auch sie Grenzen überwinden. Doch Drogen, Sex, Missgunst und gefährliche Spiele sind kein Kinderkram. Die Realitätsflucht durch künstlich herbeigeführte Ohnmachtsanfälle endet für Fila dann offensichtlich tragisch.
Mit sehr viel realeren Grenzen befassen sich gleich mehrere andere der Jugendfilme. Die Frage, wie weit Migrantenkinder in die jeweilige Gesellschaft integriert sind, steht hier im Mittelpunkt. „Wo Gömmer“ von der Schweizer Regisseurin Cosima Frei zeigt das Schicksal von Cem, der sich mit seinen Züricher Kumpels gut versteht, Schwyzerdütsch spricht wie alle anderen, aber ohne Abschluss und Lehrstelle hat er keine Perspektive. Seine Familie will, dass er in der Türkei Metzger wird. Er will etwas ganz anderes. Als er eine junge Schweizerin kennenlernt, ist beiden klar, dass sein Platz nicht in der Türkei, sondern in Zürich ist. Doch am nächsten Morgen muss er zurück zu seiner Familie.
Regisseurin Cosima Frei ist selbst in einem Züricher Migrantenviertel aufgewachsen, in der Grundschule war sie die einzige gebürtige Schweizerin. Ihre beste Freundin kommt aus der Türkei, so habe ihr die Thematik einfach nahegelegen, sagt die Filmstudentin. Sie weiß aus Gesprächen, dass Einwandererkinder sich oft zurückgesetzt fühlen, dass die jungen Männer auch nicht glauben, einmal mit einer Schweizerin zusammenkommen zu können. Cem schafft das in ihrem Film, für ihn ist das ein großer Sprung. Am Ende weiß er, wohin er gehört. Auch wenn alles offen bleibt.
Diesen Zwiespalt zwischen alter und neuer Heimat hat auch Arne Ahrens in seinem Film „Meine Beschneidung“ wunderbar thematisiert. Ümit wächst in Süddeutschland auf. In der Türkei soll er zusammen mit seinem Cousin beschnitten werden. Schon bei der ersten Begegnung prallen die unterschiedlichen Hintergründe und Kulturen aufeinander. Schnell wird Ümit beschimpft, die türkischen Kinder behaupten, dass der Fußballer Özil, auf den Ümit so stolz ist, gezwungen wurde, in der deutschen Nationalmannschaft zu spielen. Die Gegensätze scheinen unüberbrückbar. Doch nach der für die beiden Jungs nicht ganz einfachen Beschneidungszeremonie finden sie doch in gegenseitigem Respekt zueinander.
Am Abend dann noch ein Film, der lange nachwirkt. „Die Welt danach“ von Jens Wischnewski erzählt von der Strahlenexpertin Lisa, die bei der Bergung der 125000 Fässer mit radioaktivem Müll helfen soll, die im Salzbergwerk Asse verrotten. Ihre Entscheidung für die heikle Aufgabe bedeutet die Trennung von ihrer Familie. Sie macht es aber trotzdem, gerade für ihre Kinder. Denn sie weiß, dass sonst das Grundwasser auf ewig verseucht würde. Bedrückend an dem Film: Die Fässer in der Asse gibt es wirklich. Und sie liegen immer noch da unten.
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