Landeshauptstadt: Griechenland und krumme Gurken
Wenn Europa vorfährt: EU-Parlamentschef Martin Schulz war am Freitag zu Gast an der Voltaire-Schule und in der Waldstadt
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Die Gesichter kleben hinter den Scheiben, in der ersten Etage winken Schüler aus einem Fenster, gefühlt die ganze Voltaire-Gesamtschule will dabei sein, wenn Europa vorfährt. Und Europa kommt pünktlich. 11.29 Uhr hält die Fahrzeugflotte, eskortiert von sieben Polizisten auf Motorrädern, vor dem Theatersaal, wo 50 Schüler – viele mit gefalteten Zetteln in den Händen – und Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) schon auf den Gast aus Brüssel warten. Der Eintrag ins Gästebuch des Landes, ein Foto für die Presse, Sekundensache. Dann nimmt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlamentes, Platz in der Runde, in die sich auch Potsdams Bürgermeister Burkard Exner, die Landtagsabgeordnete Susanne Melior und der Werderaner Europaabgeordnete Norbert Glante (alle SPD) gemischt haben.
Schulz lässt sich eine Stunde lang von den keineswegs politikverdrossenen Schülern ausfragen. Über das geringe Wählerinteresse bei den EU-Wahlen, die politische Zukunft Italiens, über Eurokrise, Jugendarbeitslosigkeit, Massenproduktion in der Landwirtschaft, Energiepolitik, EU-Erweiterung. Schulz oder vielmehr „der Martin“, wie er von seinen anwesenden Parteifreunden genannt wird, erzählt gern und tut das deftig. „Sauwütend“ mache ihn die „einseitige Haushaltskürzungsorgie“ als Reaktion auf die Krise in einigen EU-Ländern: „Investoren kommen nicht, wenn man den Haushalt kürzt, sondern wenn sie die Chance sehen, Gewinne zu machen“, schimpft der gebürtige Nordrhein-Westfale. Und als ein Schüler nachhakt, erklärt er, was in Griechenland passieren müsste: Ein Kreditprogramm der EU müsse her, um den Investitionsstau bei der Sanierung von Schulen, Straßen oder Krankenhäusern aufzulösen. Oder warum nicht Griechenlands Sonnenstunden in Solarstrom für Europa ummünzen? „Dazu brauchen wir aber Stromtransportnetze“, sagt Schulz. Müsste man nicht den EU-Haushalt ganz neu verteilen, fragt der Schüler nach. „Du sprichst mir aus der Seele“, nickt Schulz.
Als EU-Parlamentarier hat er aber selbst in der größten Fraktion, der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten, weniger zu melden als seine Kollegen in den Parlamenten auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene, wie er erläutert. Denn eigene Gesetzesvorschläge darf das EU-Parlament nicht machen, das ist der Kommission vorbehalten. Schulz schaut in Richtung Platzeck: „Der Matthias würde aus dem Lachen nicht mehr herauskommen, wenn das bei ihm so wäre.“ Ein „völlig demokratiefremdes Projekt“ sei diese Struktur, ärgert sich Schulz.
Und dann sind da noch die Regierungen der einzelnen Länder. Bei denen, beschwert sich Schulz, hält Europa nur als Schuldenbock für Fehlentwicklungen her, gute EU-Entscheidungen würden dagegen als eigene Erfolge verkauft. Dass es die oft verspottete europäische Gurkenverordnung nie gegeben hat, wie Schulz den Schülern erklärt, stimmt allerdings nicht, wie ein Blick ins EU-Amtsblatt Nummer L 150 aus dem Jahr 1988 zeigt. Richtig ist, dass die Verordnung, in der auch der Krümmungsgrad von Gurken festgelegt war, heute nicht mehr gilt.
Als Schulz sich verabschiedet, sind längst nicht alle Fragen beantwortet, er bietet den Schülern noch einen zweiten Termin mit mehr Zeit an, bevor er in den schwarzen Mercedes steigt. Die Eskorte rollt weiter ins Plattenbauviertel Waldstadt, wo sich Schulz beim Verein für Arbeitsmarktintegration und Berufsförderung erklären lässt, wie man mithilfe von EU-Geldern Menschen hilft, für die es in der Schule nicht besonders gut gelaufen ist. Schulabbrecherin Manuela Klatt ist bestes Beispiel für den Effekt der „Sprungfeder“: Selbstbewusst erzählt die 25-jährige Mutter einer Tochter von ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Das Abitur dürfe nicht als einziger Weg zum Berufsglück gesehen werden, ist sich die Runde, in der auch Arbeitgeber sitzen, schnell einig. Schulz weiß das selbst am besten: „Ich zum Beispiel habe kein Abitur.“ Obwohl er die Schule geschmissen habe, stellte ihn ein Buchhändler ein. Schulz lobt das „Sprungfeder“-Projekt. Bevor er sich zum Mittag im Restaurant „Villa Haacke“ verabschiedet, legt er der Runde noch etwas ans Herz: „Erzählen Sie weiter, dass die EU hier kein Geld aus dem Fenster schmeißt.“
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