Landeshauptstadt: Gruppenbild mit Rose
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zeichnete gestern 150 langjährige Mitglieder aus
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Drewitz – Das „Du“ verwenden die beiden frisch pensionierten Herren miteinander ohne Zögern. Dabei haben sie sich gerade erst kennengelernt. Aber Eberhard Schnier und Jörg Oldenburg haben mehr gemeinsam als nur das Alter. 1957 traten sie dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) bei, dem Dachverband der DDR-Gewerkschaften: Schnier als Lehrling in der Forstwirtschaft, Oldenburg als angehender Buchbinder. Beide haben der Gewerkschaft bis heute die Treue gehalten. „Zusammen haben wir hundert Jahre“, sagt Eberhard Schnier und Jörg Oldenburg lächelt. Gestern wurden die beiden 65-Jährigen als zwei von 150 ver.di-Mitgliedern für ihre Mitgliedschaft ausgezeichnet.
An Zehnertischen saßen die Langzeit-Gewerkschafter im großen Saal des Gasthauses „Zum Lindenhof“ in der Neuendorfer Straße und warteten auf ihren Namen. Kein Applaus jedenfalls, als der ver.di-Bezirksgeschäftsführer Marco Pavlik die hohe Anzahl von prekären Beschäftigungsverhältnissen anprangert – „fast 40 Prozent in Brandenburg“–, das Projekt „Rente mit 67“ ein „gigantisches Rentenkürzungsprogramm“ nennt und die „Schaffung eines gesetzlichen Mindestlohnes“ als „Herausforderung der Zukunft“ ausmacht. Nach der Rede ruft Pavlik die Gäste in Gruppen vor die Bühne: Zuerst die, die vor 25 Jahren Gewerkschafter geworden sind, dann die, die vor 40 Jahren beigetreten sind, dann 45, 50, 55 und 60 Jahre.
Jedes Jahr gibt es solche Feier-Veranstaltungen, erklärt Pavlik. Die Zeiten bei der FDGB würden als „Vorgewerkschaftszeit“ anerkannt. Vergleichen wolle er den FDGB mit der Gewerkschaft nicht, betont er. „Das war ein großer Unterschied“, sagt Eberhard Schnier.
Bald nach seiner Ausbildung zum Forstfacharbeiter sattelte der Potsdamer um: Er studierte Diplomsportlehrer und wurde Schwimmtrainer an der Sportschule des heutigen Olympiastützpunktes. Auch Jörg Oldenburg studierte nach der Buchbinderausbildung und wurde Restaurator: „Urkunden, Siegel, Karten“, erklärt er. Zuletzt arbeitete er im Landeshauptarchiv.
Knapp 28 000 Mitglieder habe der Gewerkschafts-Bezirk aktuell, sagt Marco Pavlik. „Wir haben verloren, auch in diesem Bezirk“, fügt er mit besorgter Stimme hinzu, spricht dann aber von einer „Konsolidierungsphase“. Dann schaut er in den Saal: „Es gibt auch wieder mehr Jugendliche unter 28 Jahren.“
Nun werden Oldenburg und Schnier auf die Bühne gerufen: Zusammen mit etwa 30 anderen Gewerkschaftern bekommen sie eine Rose überreicht und nehmen zum Gruppenbild Aufstellung. Vor 50 Jahren, erinnert Pavlik, gab es in der DDR zum ersten Mal die 45-Stundenwoche: „Damals eine soziale Errungenschaft“. Der Schriftsteller Alfred Döblin, erzählt Pavlik weiter, ist im Juni 1957 gestorben, im Oktober startete die Sowjetunion mit Sputnik 1 „die Ära der Raumfahrt“, in Frankfurt am Main wurde die Prostituierte Rosemarie Nitribitt „erwürgt aufgefunden“ und in der DDR ging der Trabant „P 50“ in Produktion. Oldenburg und Schnier nicken. Sie wollen dabeibleiben. Auch als Rentner.
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