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Nach der Flucht. Der Entwicklungshelfer mit einem afghanischen Polizisten.

© SPON

Entführung in Afghanistan: Handschellen gelockert

Wie der Potsdamer Entwicklungshelfer Stefan E. sich in Afghanistan aus der Geiselhaft selbst befreite

Stand:

Der in Afghanistan in Gefangenschaft der Taliban geratene Potsdamer Entwicklungshelfer Stefan E. sollte offenbar von Elitesoldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) befreit werden. Das berichtet das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe. Demnach markiert der Entführungsfall des 37-jährigen Potsdamers einen Wendepunkt im Umgang der Bundesregierung mit Geiselnehmern: Statt Verhandlungen und hoher Lösegeldsummen soll es verstärkt sogenannte „robuste Lösungen“, also Geiselbefreiungen mit militärischer Gewalt, geben. Zudem machte der „Spiegel“ die genauen Umstände publik, wie der 37-jährige Potsdamer in Gefangenschaft der islamistischen Taliban geriet und wie er sich befreien konnte.

E. war für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Afghanistan tätig, um beim Aufbau der Verwaltung zu helfen. Als er am 18. April mit einem Taxi von der Provinzhauptstadt Masar-i-Sharif nach Kundus unterwegs war, lauerten die Taliban ihm auf und kidnappten ihn. Später soll der Fahrer laut „Spiegel“ gestanden haben, dass er die Route vorab den Taliban verraten habe.

Als ein Bewacher döste, soll er sich die Handschellen abgestreift haben

Stefan E. konnte sich laut „Spiegel“ nach sechs Wochen in der Gewalt der Islamisten schließlich selbst befreien. Beim Gang zur Toilette sollen die Entführer ihm stets die Handschellen abgenommen haben, er selbst soll sie sich wieder angelegt haben – jedes Mal ein wenig lockerer. In einer stürmischen Nacht, als ein Bewacher döste, soll er sich dann die Handschellen abgestreift und durch ein Fenster entkommen sein. Über Stunden soll er umhergeirrt sein. An einem Checkpoint bei Kundus griff ihn die afghanische Polizei auf. Auch dabei hatte er Glück: Zunächst sollen die Beamten den Potsdamer, gekleidet in traditioneller Kleidung der Afghanen, für einen Attentäter gehalten haben. Erst später hätten sie bemerkt, wen sie dort aufgegriffen haben.

Bundesregierung plante militärischen Einsatz zur Befreiung vor

Ungewöhnlich an dem Fall ist nicht nur die Selbstbefreiung. Bereits wenige Tage nach der Entführung soll der Krisenstab des Auswärtigen Amtes entschieden haben, „militärische Optionen zur Befreiung des Entführten“ vorzubereiten. Das geht laut „Spiegel“ aus einem vertraulichen Papier des Verteidigungsministeriums hervor. Daraufhin wurden 178 KSK-Soldaten in das letzte Feldlager der deutschen Truppen im Norden Afghanistans in Masar-i-Sharif verlegt, um den Einsatz vorzubereiten.

Die Bedeutung der Entscheidung zur gewaltsamen Befreiung lässt sich daran ermessen, wann die Bundesregierung zuletzt deutsche Staatsbürger befreien ließ: Das war 1977, als ein Kommando der GSG 9, die Antiterroreinheit der Bundespolizei – damals noch Bundesgrenzschutz –, die von palästinensischen Terroristen entführte Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Somalias Hauptstadt Mogadischu stürmte. Seither setzte die Bundesregierung auf Verhandlungen und Lösegeld. Beinahe wäre es schon 2008 zu einer Befreiung gekommen. 150 Mann der GSG 9 sowie andere Einsatzkräfte waren nach Ägypten verlegt worden, um dort eine entführte Reisegruppe von fünf Deutschen, fünf Italienern, einer Rumänin und ägyptische Begleiter zu befreien. Zur „robusten Lösung“ kam es dann doch nicht, weil die unter Druck geratenen Geiselnehmer die Touristen selbst freiließen.

USA hatte Deutschland vorgeworfen, mit Lösegeldzahlungen islamistische Terrorgruppen zu unterstützen

Dass nun Stefan E. in Afghanistan militärisch befreit werden sollte, hat laut „Spiegel“ einen klaren politischen Grund: In den vergangenen Jahren soll der internationale Druck auf die Bundesregierung gestiegen sein, härter bei Geiselnahmen vorzugehen und nicht mehr das Geschäftsmodell der Terroristen zu bedienen. Die USA sollen der Bundesregierung vorgeworfen haben, dass sie mit den Millionensummen an Lösegeld für deutsche Staatsbürger die Kriegskassen islamistischer Terrorgruppen füllt. Ein Regierungsbeamter wird mit den Worten zitiert: „Wir sind professioneller geworden“. Bei genügend Chancen sollen Spezialkräfte zum Einsatz kommen, um Geisel zu befreien. Darüber herrsche in der Bundesregierung Einigkeit.

Für die Befreiung von Stefan E. forderte das KSK auch Hilfe der amerikanischen Truppen an, etwa durch Hubschrauber und Aufklärungstechnik. Mehrfach sollen die Spezialkräfte den Potsdamer geortet haben, er soll von vier bis fünf Entführern in verschiedene Verstecke verschleppt worden sein. Nach den KSK-Plänen sollten die deutschen Elitekämpfer dann im Schutz der Dunkelheit offenbar per Fallschirm 20 bis 30 Kilometer entfernt vom Versteck in der Nähe von Kundus abspringen und es dann ausspähen. Ein schwer bewaffneter Trupp sollte das Gehöft stürmen, die Geiselnehmer töten und Stefan E. befreien – und alles binnen weniger Minuten. Dann sollten Hubschrauber die Einsätzkräfte und den Entwicklungshelfer ausfliegen. Nach Darstellung des „Spiegels“ kam es nie dazu, weil die Amerikaner eine Vorlaufzeit von drei Tagen brauchten, um die angeforderte Technik bereitzustellen. Ein aussichtsloses Unterfangen also, weil die Geiselnehmer häufig das Versteck wechselten.

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