zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Immer an der Mauer lang

Schüler der Goethe-Gesamtschule erforschten das Schicksal des Stadtteils Klein Glienicke

Stand:

Die Aussage überrascht, vor allem hier, im jahrzehntelang buchstäblich eingemauerten Klein Glienicke: „Wir haben uns nicht eingesperrt gefühlt.“ Mit diesen Worten beschreibt eine alteingesessene Einwohnerin ihr damaliges Leben in unmittelbarer Nähe zur Berliner Mauer. Die Frau ist eine von mehreren Zeitzeugen, die bereit waren, Schülern der Babelsberger Goethe-Gesamtschule von ihrem Leben mit der Mauer in Klein Glienicke zu berichten. Zwei Tage lang beschäftigten sich die Babelsberger Achtklässler für ein Geschichtsprojekt mit der Zeit, in der Klein Glienicke von Betonmauer und Schussfeld umgeben war.

„Es hätte schöner nicht sein können“, habe die ältere Dame erzählt, berichtet der 14-jährige Daniel. Die kostenlosen sozialen Einrichtungen in der DDR seien nach Ansicht der Frau gut gewesen. Bei der Vereinigung von Ost und West hätte man einfach das Gute aus beiden Systemen in die neue Zeit überführen sollen, erläutert der Schüler die Meinung der Zeitzeugin. Bei einem Streifzug durch die Straßen von Klein Glienicke kartierten die jungen Grenzforscher den kleinen Potsdamer Stadtteil und kamen mit Anwohnern ins Gespräch.

Initiiert wurde das Schülerprojekt vom Institut für angewandte Geschichte, das vor über 10 Jahren von Studenten der Frankfurter Europa-Universität „Viadrina“ als Verein gegründet wurde. Man widme sich mit der Vereinsarbeit vorwiegend der Kulturgeschichte Mittel- und Osteuropas, sagt Projektkoordinator Stefan Neumann. Es gehe dem Verein darum, zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu vermitteln. Dabei sei Geschichte in einer freiheitlichen Gesellschaft nichts Statisches, sondern „ein Konstrukt, das der Wahrheit nahekommen kann oder auch nicht“, ergänzt Vereins-Geschäftsführer Stephan Felsberg. In Demokratien werde Geschichte immer neu „verhandelt“, während es in Diktaturen nur ein einziges offizielles Geschichtsbild gebe.

Getreu dieser Erkenntnis, dass Geschichtsbilder durchaus von denen abhängen, die Geschichtsforschung betreiben, haben die Veranstalter ihre Schüler-Workshopreihe „Die Grenzreporter – Geschichte selbstgemacht!“ genannt. Klein Glienicke ist nur einer von mehreren Orten, an denen Schüler im Rahmen dieser Reihe dem politischen Umbruch von 1989 nachspüren.

Im Vorfeld des zweitägigen Workshops hatten die Veranstalter ihr Projekt mit Flyern unter der Bevölkerung Klein Glienickes bekannt gemacht. Vor Ort haben dann die Schüler bei den Anwohnern geklingelt, um ins Gespräch zu kommen. Oft liefen ihnen die Menschen bereits auf der Straße entgegen. „Die waren wahrscheinlich mal froh, dass da was los ist“, mutmaßt Alina. Die 14-Jährige findet es „cool, dass die alle so rausgekommen sind“.

Joelle zum Beispiel erfuhr bei den Gesprächen, dass die Leute früher nach Einbruch der Dunkelheit gerne mal ihre Gardinen zuzogen, damit von außen niemand merkte, wenn sie Westfernsehen sahen. Die Zeitzeugen hätten erzählt, damals habe man hier „nur noch im Kreis rennen“ können, da ringsherum die Mauer gezogen war, so die 14-Jährige. Der einzige Ausweg aus diesem Freiluftverschlag war die Brücke über den Teltowkanal.

Dittmar Lietz, 1973 als Grenzsoldat nach Klein Glienicke gekommen und seit 1976 selbst Einwohner des einst eingemauerten Stadtteils, berichtete den Schülern: „Du konntest dein Kind hier laufen lassen. Es ist ja immer an der Mauer entlang. Irgendwann ist es dann wieder nach Hause gekommen.“ Da Klein Glienicke zum besonders gesicherten Grenzgebiet gehörte, habe man nicht einfach spontan Besuch einladen können. Der musste sechs Wochen vorher angemeldet werden. War der avisierte Gast politisch „nicht ganz sauber“, konnte der Besuchsantrag abgelehnt werden, erzählte Lietz.

37 Mark Miete im Monat habe er zu DDR-Zeiten für sein Haus bezahlt. 30 Mark Wohngeld erhielt er von seinem Arbeitgeber, der Polizei. Blieben sieben Mark Miete. Nach 1989 seien viele Bewohner aus Klein Glienicke weggezogen. Die Mieten wurden unerschwinglich, viele Häuser an die Alteigentümer zurückgegeben, so Lietz. Er habe sein Haus glücklicherweise kaufen können.

Auch eine Geschichte, die wohl für den ganzen Irrsinn des damaligen Grenzregimes steht, haben die Schüler in den zwei Tagen recherchiert: Ein Kind im eingemauerten Klein Glienicke sei schwer erkrankt gewesen und es habe sogar dessen Tod gedroht. An der streng kontrollierten Brücke über den Teltowkanal hätten die Grenzposten den Krankenwagen gestoppt. Wertvolle Zeit sei dabei verloren gegangen. „Denen war es damals anscheinend wichtiger, ihr System durchzudrücken, als Leben zu retten“, meint Goethe-Schüler Daniel. Anders als bei vielen Fluchtversuchen über die Mauer konnte das Leben hier jedoch gerettet werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })