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Landeshauptstadt: Jahrzehnte der Ungewissheit

Die Wanderausstellung „Erschossen in Moskau“ in der Gedenkstätte Leistikowstraße zeigt das Schicksal von 927 zum Tode verurteilten Deutschen – 80 waren in Potsdam inhaftiert

Stand:

Detlef Hensel steht vor der Gedenkstätte Leistikowstraße. Er zeigt auf die Außenmauer des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses des sowjetischen Geheimdienstes: „Dahinter liegt die Zelle, in der mein Vater gesessen hat“, sagt der 72-jährige Berliner. Dies weiß Hensel erst seit 2007. Einige Jahre zuvor sei er hier schon einmal vorbeigegangen: „Ich war zu Besuch in Potsdam und habe mir das Schloss Cecilienhof angesehen.“ Hensel wusste damals weder, dass der düstere Bau, neben dem er sein Auto geparkt hatte, früher ein Gefängnis war, noch dass sein Vater Johannes Hensel 1951 hier wegen angeblicher Spionage festgehalten und wenig später nach Moskau transportiert und hingerichtet wurde.

Hensel ist einer von vielen, die durch die Wanderausstellung „Erschossen in Moskau“ nach Jahrzehnten der Ungewissheit endlich erfahren haben, was damals mit ihren Angehörigen geschehen ist. Jetzt macht die Ausstellung in Potsdam Station. Zwischen 1950 und 1953 waren insgesamt 927 Deutsche von geheimen sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt und in Moskau hingerichtet worden – mindestens 80 von ihnen waren zuvor im Gefängnis Leistikowstraße inhaftiert, wo die Ausstellung jetzt gezeigt wird. Die Asche der Toten wurde auf dem Moskauer Friedhof Donskoje in anonymen Massengräbern verscharrt – keine Erinnerung sollte übrig bleiben.

Ein internationales Forschungsprojekt hatte sich 2004 daran gemacht, diese Opfer des Stalinismus dem Vergessen zu entreißen: Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial International“, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und das Forschungsinstitut Facts & Files recherchierten die Identitäten der Toten und präsentierten ihre Ergebnisse ab 2006 in einem Totenbuch und einer Wanderausstellung, die am Mittwochabend in der Gedenkstätte Leistikowstraße eröffnet wurde.

Der Fall von Johannes Hensel ist exemplarisch für viele ähnliche Schicksale der knapp 1000 getöteten Deutschen – unter ihnen 251 Brandenburger: Ab 1950 suchten die sowjetischen und ostdeutschen Geheimdienste mit verstärkter Intensität nach „Feinden des Staates“, so Frank Drauschke von Facts & Files: „Die Verhaftung konnte jederzeit erfolgen, meist traten die Geheimdienstler als Polizisten auf und holten die Betroffenen angeblich zur Klärung eines Sachverhaltes aus dem Haus, um sie dann später zu verhaften.“

Johannes Hensel wurde 1951 von zwei Volkspolizisten in seinem Betrieb in Finowfurt zur Vernehmung mitgenommen. „Vor dem Haus waren schon ‚Zivilisten’ aufgestellt worden, eine Flucht war unmöglich“, berichtet Detlef Hensel. Von diesem Zeitpunkt an blieb sein Vater verschwunden, Fragen an Behörden blieben unbeantwortet. Die Verwandten hörten zum Teil nie wieder etwas von ihren Angehörigen, kein offizielles Dokument bestätigte deren Verhaftung, bestätigt Frank Drauschke. Aufgrund der hohen Geheimhaltung wussten oft nicht einmal die ostdeutschen Behörden, was mit den Verurteilten geschah.

1955 erhielten Hensels einen Brief, in dem Johannes Hensel für tot erklärt wurde. „Das Wann, Wie und Wo blieb ungeklärt und ich hatte immer Zweifel an der Echtheit des Briefes“, sagt Detlef Hensel. Erst 2007 erfuhr er durch Zufall aus einem Zeitungsartikel über die Wanderausstellung vom Schicksal seines Vaters: Er war wegen angeblicher Spionage für die Briten zum Tode verurteilt worden und nach seiner Haft in Potsdam in Moskau erschossen worden.

In den meisten Fällen basierten die Verurteilungen auf unbegründeten Vermutungen oder völlig nichtigen „Vergehen“ – es konnte reichen, sich kritisch über die Staatsführung geäußert zu haben oder nach Frankreich gefahren zu sein, um wegen Spionage verurteilt zu werden. Spionage war mit über 90 Prozent die häufigste Anschuldigung gegen die 927 Verurteilten, so Drauschke.

Zum Teil sind die Schicksale der Toten bis heute nicht restlos geklärt, doch im Laufe der Zeit kommen immer neue Details dazu: So entdeckten die Mitarbeiter der Gedenkstätte Leistikowstraße, dass mindestens 80 der Verurteilten in der Leistikowstraße inhaftiert waren; ursprünglich war dies nur von sieben der Betroffenen bekannt.

„Wir schauten uns die Fotos der Inhaftierten in dem Totenbuch an und wussten, daran kommt uns etwas bekannt vor“, sagt Ines Reich, Leiterin der Gedenkstätte. „Wir erkannten, dass die Wand mit den Scheinfugen, vor der die Fotografierten standen, die Nordwand des Leistikowstraßen-Gefängnisses war.“ Reich und ihre Mitarbeiter fanden die Nordwand auf 60 Fotos wieder, bei den restlichen 20 Inhaftierten konnte der Haftort durch diverse Querverweise identifiziert werden.

Reich kündigte an, dass sich die Gedenkstätte in diesem Jahr verstärkt der Recherche über die Verurteilten widmen und im Laufe des Jahres eine Broschüre erarbeiten wird, die alle Biografien der Leistikow-Straßen-Häftlinge enthalten wird, die zwischen 1950 und 1953 zum Tode verurteilt wurden.

Die Ausstellung kann Dienstag bis Sonntag, 14 bis 18 Uhr, in der Leistikowstraße 1 besichtigt werden, der Eintritt ist frei

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