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Post aus Tel-Aviv: Auch an Israels größter Universität wurde gegen erhöhte Studiengebühren gestreikt
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Post aus Tel-Aviv: Auch an Israels größter Universität wurde gegen erhöhte Studiengebühren gestreikt Von Eik Doedtmann Tel-Aviv im Frühsommer 2005. Alle 200 Plätze des Hörsaals 144 im Gebäude der geisteswissenschaftlichen Fakultät sind besetzt. Wie jeden Sonntagmittag – die Arbeitswoche in Israel beginnt am Sonntag – drängeln sich dazu noch etliche Studenten auf den Gängen des Auditoriums zur Vorlesung von Professor Schlomo Sand. Das Thema zieht: „Kino als Geschichtsschreibung über Faschismus, Nationalsozialismus und Rassismus“. Viele der Hörer sind deutlich jenseits des üblichen Studentenalters. Rentner-Gasthörer sind kein seltenes Bild an israelischen Universitäten. Es gibt viele Fragen: Etwa wie es dazu kam, dass die Oma, die 1938 aus Nazi-Deutschland floh, Leni Riefenstahls Filme so mochte? Professor Sand, in Israel als Enfant terrible der politischen Linken und als ewiger Querdenker bekannt, setzt gerade zur Einführung an, als eine fünfköpfige Gruppe von Schwarzhemden die Vorlesung stürmt. „Keine Vorlesungen heute! Die Uni wird bestreikt! Alle Studenten finden sich vorm Haupttor ein! Es geht um die Zukunft der Uni, und gerade um die der Geisteswissenschaften!“ Murren im Hörsaal. Schlomo Sand stellt sich gegen die Anordnung der Vertreter der Studentenunion, die an ihren schwarzen T-Shirts zu erkennen sind. Er schlägt eine Podiumsdiskussion vor. Oder noch besser ein Sit-in á la 1968. Die Stimmen im Hörsaal variieren zwischen Sympathie für die Studentendemo und offener Ablehnung. Besonders einige der Älteren schimpfen über die rigorose Art des Rauswurfs. Doch die Hartnäckigkeit der Jungen gewinnt. Spätestens seit Erscheinen des Artikels „Die lächerliche Akademie: Alles nur eine Frage des Geldes“ im Tel-Aviver Wochenendmagazin „Ha-Ir“ („Die Stadt“) vom 10. März ist die Luft an der Universität wie elektrisiert. Wie alle anderen fünf israelischen Universitäten befindet sich auch die Tel-Aviver am Scheideweg. Die finanzielle Lage ist bedrohlich. Ein Loch mit unbekannter Größe klafft im Etat. Gerüchte wissen von 200 Millionen Euro. Der israelische Staat ist in Zeiten der Zweiten Intifada knapp bei Kasse und zeigt keine Bereitschaft zur Unterstützung. So gehen die Überlegungen jetzt dahin, die Studiengebühren anzuheben: vom heutigen Mindestsatz von 2200 Euro pro Jahr auf zukünftig 4400 Euro. Ein anderer Plan sieht vor, dass die Studenten gemäß ihren Möglichkeiten zahlen. Das klingt gut, birgt aber eine negative Entwicklung in sich: die finanziell lukrativen Berufsfelder, wie Jura, BWL oder Medizin erhöben höhere Studiengebühren und wären damit nur noch den Reicheren zugänglich. Generell sollen die Fakultäten der Geisteswissenschaften und der Künste bluten. Die Fächer „Hebräische Literatur“ und „Geschichte des Volkes Israels“ sollen ihre Unabhängigkeit als eigenständige Studiengänge verlieren. Das Theaterstudium könnte einen Großteil seiner Schauspielausbildung verlieren. Die mit derzeit gut 28 000 Studenten größte israelische Universität soll schlanker und effektiver werden. Der Rektor, Professor Itamar Rabinowitsch, wird als Schuldiger für eine Entwicklung gesehen, bei der die Universität in eine Art Serviceeinrichtung mit harten wirtschaftlichen Erwägungen umgewandelt werden soll. Für die Universität wenig lukrative Fächer wie etwa Geschichte finden darin keine große Berücksichtigung. Professor Schlomo Sand sieht für die Zukunft der akademischen Zunft schwarz: „So gute Bedingungen, wie ich sie für meine akademischen Forschungen hatte, wird es in Zukunft nicht mehr geben.“ Vor dem Haupteingang der Uni stehen nun einige hundert Studenten. Die Demonstration dauert schon seit dem Morgen an. Einige der Anwesenden schwenken Transparente und parlieren Slogans wie „Universität ist kein Business!“. Auf der Terrasse sind wuchtige Boxen aufgetürmt, aus denen Technoklänge wummern. Den Temperaturen angemessen bauch- und schulterfrei gekleidete Studentinnen lassen rhythmisch die Hüften kreisen. Die meisten Redner auf dem Podium halten sich kurz und polemisch. Sätze wie „Ihr kämpft den Kampf um die Zukunft des Staates“ ernten warmen Applaus. Einige Parlamentsabgeordnete sind erschienen und schreiben ihre Namen auf ein riesiges Transparent, das die Unterstützung der Parlamentarier dokumentiert. Shimon Peres und Ehud Barak sollen auch schon da gewesen sein. Eyal Boeurs, ein 29-jähriger Filmstudent mit holländisch-jüdischen Wurzeln, meint zum allmählich träger werdenden Treiben auf dem Univorplatz: „Das ist eine Demo?! Beim letzten großen Studentenprotest vor sechs Jahren haben wir noch viel krassere Sachen bewerkstelligt.“ Man müsse die Leute heutzutage schockieren. Die Führung der Studentenunion habe es doch nur auf eine steile Karriere in der Labour-Partei abgesehen. Professor Schlomo Sand taucht schließlich auch unter den Demonstranten auf. Sein Ratschlag: „Die jungen Leute sollten sich nackt ausziehen und aufs Podium stellen. So wie in Europa. Das würde die Medien total verrückt machen. In Israel haben die sowas noch nicht gesehen. Ich selber kann“s nicht mehr machen, bin schon zu alt dafür.“ Gegen zwei Uhr verläuft sich dann die Demo an diesem Sonntag. Vorlesungen und Seminare werden heute keine mehr gehalten. Auf den Wiesen des Campus finden sich nur noch vereinzelt Studenten. Dani Orbach, 22 Jahre, Geschichtsstudent sitzt im Schatten einer Palme vor der Uni. Als er erfährt, dass es derzeit auch in Potsdam Demos gegen Studiengebühren gibt, ist er völlig überrascht. Kürzungen im deutschen Bildungssystem konnte er sich bislang nicht vorstellen. Der Autor studiert an der Universität Potsdam Jüdische Studien, seit Oktober 2003 studiert er im Rahmen seiner Ausbildung an der Universität Tel-Aviv.
Eik Doedtmann
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