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Homepage: „Mehr Rücksicht und Akzeptanz in den Klassen“

Die Potsdamer Grundschulpädagogin Agi Schründer-Lenzen erklärt, warum der geplante Studiengang Inklusion an der Universität Potsdam so wichtig ist

Stand:

Frau Schründer-Lenzen, Sie bauen derzeit an der Universität Potsdam einen Studiengang für Inklusionspädagogik auf. In Zukunft sollen auch lernschwache Kinder auf normalen Schulen unterrichtet werden. Was müssen die angehenden Lehrer dafür lernen?

Viel – und dafür fehlte ihnen bisher die Ausbildung. Wir werden deshalb die Lehrerbildung an der Universität Potsdam komplett umstellen. Ende des nächsten Jahres startet ein neuer Studiengang für die zukünftigen Grundschullehrerinnen und -lehrer mit dem Schwerpunkt Inklusionspädagogik.

Was unterscheidet die Inklusion von der bereits gelebten Integration an Grundschulen?

Die Integration hat den Fokus auf das irgendwie besondere „Förderkind“ gelegt, das durch einen Sonderschullehrer in einem ergänzenden Förderunterricht in der Grundschule begleitet wird. Diese Grundidee hat sich verändert. Wenn wir nun Inklusionspädagogen für die Grundschule ausbilden wollen, ist die Zielstellung, eine Lehrperson zu haben, die beides kann: grundschulpädagogischen Fachunterricht in den Kernfächern Deutsch und Mathematik und individuelle Förderung für jedes Kind und damit eben auch für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Diese Lehrkräfte sind nicht mehr „Reisende in Sachen Förderpädagogik“, die von Schule zu Schule wandern, um „Förderstunden“ abzuhalten. Sie sind voll ausgebildete Grundschullehrkräfte, die den Klassenunterricht auch unabhängig davon halten können, ob Förderkinder in der Klasse sind oder nicht.

Worauf geht die Inklusion zurück?

Rein formal geht der Anspruch auf inklusive Beschulung – auf die eine Schule für alle Kinder – auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zurück. Da die Bundesregierung diese Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, sind jetzt alle Bundesländer in der Pflicht, weitreichende schulrechtliche Veränderungen auf den Weg zu bringen. Dieser Veränderungsbedarf ist für Deutschland in der Tat sehr hoch, da bisher – anders als im europäischen Ausland – die separierende Beschulung in Sonderschulen weitverbreitete Praxis ist.

Was erwartet Ihre zukünftigen Studierenden?

Wer den Schwerpunkt Inklusion bei uns studieren wird, der erhält eine besondere Ausbildung für die drei häufigsten Inklusionsfälle: Förderung im Bereich Lernen, Sprache und Verhalten. Hier soll eine fundierte Expertise vermittelt werden. Das Studium hat in diesen drei Förderschwerpunkten einen Umfang, der nahezu dem entspricht, was bislang der Sonderschullehrer studierte. Zusätzlich erhält er ein Fachstudium in zwei Unterrichtsfächern. Der „klassische“ Sonderschullehrer wurde nur in einem Unterrichtsfach ausgebildet.

Was bedeutet das für das Lehramtsstudium an der Potsdamer Universität?

Bisher haben wir für ein „stufenübergreifendes“ Lehramt ausgebildet, das heißt, die Studierenden wurden für den Unterricht in den Klassen eins bis zehn unterrichtet und konnten einen Schwerpunkt Primar- oder Sekundarstufe I wählen. Wir haben nicht spezifisch für die Grundschule ausgebildet. Jetzt setzen wir einen neuen, stufenbezogenen Fokus auf die Primarstufe mit zwei Profilen: Schwerpunkt Inklusionspädagogik und Schwerpunkt Grundschulbildung. Die Studierenden werden zwischen diesen beiden Studienschwerpunkten wählen können.

Wodurch wird Inklusion überhaupt möglich? Sicher nicht dadurch, alle Kinder einfach gemeinsam in einem Raum zu unterrichten?

Natürlich nicht. Es geht darum, Kindern mit spezifischem Förderbedarf im Regelunterricht entsprechende Lernangebote zu machen. Das ist in vielen Brandenburger Grundschulen längst Praxis, insbesondere in den klassenübergreifenden Flexklassen wird so gearbeitet.

Wie muss man sich das vorstellen?

Es geht um die Kombination verschiedener Unterrichtsformen. Die Kinder müssen darin geübt werden, sich sowohl untereinander zu helfen als auch selbst aktiv mit Lernmaterialien umzugehen. Im Idealfall ist das eine Lernumgebung mit verschiedenen Materialtischen oder Stationen, in denen die Schüler aktivierende Aufgaben vorfinden, angefangen von Lernspielen und Übungsaufgaben bis zu Experimenten. Der Unterricht sollte methodisch variantenreich sein. Neben den lehrerzentrierten Phasen sollten auch viele praktisch handelnde Lernphasen stehen, in denen die Kinder sich frei im Raum bewegen können und eben auch gemeinsam an Aufgaben arbeiten können. Gerade in diesen Lernphasen können Kinder mit Förderbedarf viel durch das Miteinander in der Lerngruppe lernen.

Werden Grundschullehrer in Zukunft mit den anderen Lehrern auf eine Stufe gestellt?

Bislang mussten Sonderschullehrer und Gymnasiallehrer länger studieren als Grundschullehrer. Insofern bekamen sie dann auch ein entsprechend höheres Gehalt als Lehrer für die Primarstufe. Nach den neuen Studienordnungen ist die Ausbildungsdauer für alle Lehrämter gleich. Das heißt, mit dem Schwerpunkt Inklusionspädagogik für die Primarstufe wird man in Zukunft so lange studieren wie bisher Gymnasial- und Sonderschullehrer. Trotzdem ist vorgesehen, dass diese neuen Grundschullehrinnen – denn es sind in der Regel Frauen – weiterhin weniger Gehalt bekommen. Das erschließt sich nicht. Das ist noch nicht ausdiskutiert.

Was ist der Vorteil des neuen Studiengangs Primarstufe-Inklusionspädagogik?

Das neue Konzept hat den Vorteil, dass die Schulen Lehrkräfte einstellen können, die sowohl für einen fachlich fundierten Unterricht qualifiziert sind als auch Expertisen haben für einen Unterricht in sehr heterogenen Klassen. Der inklusive Unterricht wird zum neuen Regelfall, nicht mehr zum „Sonderfall“. Diese Lehrkraft gehört zum Kollegium, im Gegensatz zu den Sonderpädagogen, die derzeit zur Assistenz von Schule zu Schule reisen.

Welche Vorteile hat das Konzept für die Schüler?

Wir müssen sehen, was die Praxis zeigt. Die Universität Potsdam begleitet zurzeit das Pilotprojekt des Landes Brandenburg zur Inklusion. Wir untersuchen die Veränderungen an den Pilotschulen. Konkret die Umsetzungspraxis im Unterricht, die Auswirkungen der Lehrerfortbildung und die Schulleistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Dabei interessiert uns natürlich nicht nur die Lernentwicklung der „Inklusionskinder“, sondern aller Schüler. Auch das soziale Miteinander und die Einschätzung der Lehrkräfte zur Inklusion werden erhoben.

Erste Ergebnisse aus anderen Bundesländern unterstützen den Inklusions-Ansatz.

Die bisherigen Forschungsbefunde zeigen, dass die Kinder mit besonderem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht zumindest nicht weniger lernen als in Förderschulen. Die Lernentwicklung der übrigen Kinder wird durch die Förderkinder auch nicht beeinträchtigt. Im Hinblick auf die sozialen Aspekte wurde festgestellt, dass die Rücksichtnahme auf Kinder mit Behinderung und ihre Akzeptanz durch die anderen Schüler sogar steigen. Ausschlaggebend ist hier, dass die Kinder sich gegenseitig als zum Alltag gehörend erleben. Zur sozialen Eingebundenheit der Förderkinder gibt es allerdings auch unterschiedliche Befunde. Manche Studien zeigen, dass sich Kinder in den Förderschulen geborgener fühlen. In den Regelklassen empfinden sich manche als nicht richtig eingebunden.

Welche Probleme gibt es?

Das muss man differenziert betrachten. Gut angenommen werden Kinder ohne Verhaltensprobleme. Die besonders aggressiven und störenden Kinder verursachen die größten Probleme, weil die anderen Kinder sie als auffällig und verletzend erleben. Gleiches gilt für die Lehrkräfte. Das ist eine große Herausforderung für eine Klasse, hier ist eine hohe Expertise der Lehrerinnen und Lehrer gefragt. Die Inklusion von geistig- und köperbehinderten Kindern gelingt hingegen häufig sehr gut, mit einem hohen Gewinn an sozialer Integration für beide Seiten. So unterstützen die Schüler etwa Kinder im Rollstuhl völlig selbstverständlich.

Sollten Inklusionsklassen kleiner als bisherige Schulklassen sein?

Das ist eine heikle Frage. Die empirischen Untersuchungen sprechen dafür, dass die Klassengröße nicht mit den Lernerfolgen der Kinder korreliert. Auch Kinder in den extrem kleinen Klassen an Sonderschulen, zeigen keine besseren Ergebnisse als Förderkinder in normal großen Klassen mit zwei Pädagogen. Die bisherige Klassengröße zwischen 22 und 26 Kindern scheint auch in der inklusiven Klasse möglich zu sein. Hierzu möchte ich aber erst noch einmal die Ergebnisse unserer Untersuchung abwarten, denn natürlich interessiert uns auch die Frage, unter welchen Gelingensbedingungen Inklusion in der Praxis steht.

Studienplätze für 60 Bachelor- und 50 Masterstudenten sind vorgesehen, reicht das für Berlin-Brandenburg?

Der Typus von Lehrkraft, den wir ausbilden werden, ist deutschlandweit neu. Bis 2020 wird es in der Förderpädagogik in ganz Deutschland große Bedarfslücken geben. Auch für Brandenburg wird ein hoher Mehrbedarf erwartet. Unsere ersten Absolventen werden also nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Zumal die ersten von ihnen erst 2019 auf den Arbeitsmarkt kommen werden. Da der Bedarf aber heute schon da ist, wird die berufsbegleitende Lehrerfortbildung wichtig sein.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Agi Schründer-Lenzen ist Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Uni Potsdam. Derzeit baut sie hier den Studiengang Primarstufe-Inklusionspädagogik auf.

GEMEINSAME KLASSEN

Der Inklusionsgedanke geht auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zurück, die besagt, dass es normal ist, verschieden zu sein. In Zukunft sollen auch in Brandenburg Kinder mit Förderbedarf in normalen Schulklassen unterrichtet werden. Und zwar von Grundschullehrern, nicht wie bislang von zusätzlichen Pädagogen.

NEUER STUDIENGANG

An der Uni Potsdam soll zum Wintersemester 2013/14 ein Studiengang Lehramt für die Primarstufe mit inklusionspädagogischer Schwerpunktbildung eingeführt werden. Vorgesehen sind 60 Bachelor- und 50 Master-Studienplätze. Fünf neue Professuren sind geplant. Die Studienrichtung ist deutschlandweit Neuland.

UMFANGREICHE REFORM

Die Neuausrichtung setzt voraus, dass alle lehramtsbezogenen Studienprogramme reformiert werden. Bisher gab es in Potsdam kein spezifisches Primarstufenlehramt. Kix

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