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Homepage: „Mit einer großen Ungewissheit leben“

„Wir wollen dem Verlust an Erinnerung entgegenwirken“ „Es geht darum, die Identität der Orte zu bewahren“ FH-Dozentin Annegret Burg über Erdbebenschäden in Norditalien, unnötige Abrisse und neues Baufieber

Stand:

Frau Burg, Sie sind gerade mit Studierenden aus der italienischen Region Emilia Romagna zurückgekehrt, die in diesem Jahr von einer Serie schwerer Erdbeben heimgesucht wurde. Welche Eindrücke bringen Sie mit?

Seit dem zweiten starken Beben am 29. Mai war ich viermal in der Region. Im Mai hatte ich das Erdbeben selbst in Mailand miterlebt. Ein heftiger Stoß, das ganze Gebäude geriet ins Wanken. Drei Tage später bin ich mit dem Fotografen Giovanni Chiaramonte und mit Matteo Agnoletto von unserer Partner-Universität Bologna ins Erdbebengebiet zwischen Modena, Bologna und Ferrara gefahren. Begleitet von Feuerwehrleuten des Katastrophenschutzes erhielten wir Zutritt zu einigen der unzähligen abgesperrten Ortschaften, den „roten Zonen“. In vielen dieser verlassenen Ortschaften gab es schwere Zerstörungen. Wir konnten das direkt dokumentieren.

Was sahen Sie bei Ihren späteren Reisen?

Da wurden die Veränderungen deutlich sichtbar: die rasch aufgebauten Zeltstädte etwa, in denen die Menschen aus den gesperrten Orten lebten. Bei der dritten Reise wurden die großartigen Leistungen des Katastrophenschutzes sichtbar, viele betroffene Gebäude waren gesichert, Fassaden abgestützt, Kirchen mit Spanndrähten umgurtet. Ende Oktober nun waren wir unter anderem bei der Eröffnung einer neuen Schule dabei, die in wenigen Wochen gebaut worden war. Seit dem 29. Mai war in der gesamten betroffenen Region schulfrei, viele Schulen waren stark beschädigt und sind abgerissen worden.

Wie sehr wurde das historische Kulturerbe beschädigt?

Wenn man über das Land fährt, fällt auf, dass es sehr sehr viele Kirchen erwischt hat. Weit über hundert Kirchen sind betroffen, viele davon zur Hälfte zerstört. Auch viele kleine Bauten am Wegesrand, Oratorien, kleine Sanktuarien, aber auch die Türme, die das Landschaftsbild und die Identität dort stark prägen, sind betroffen. Auch viele landwirtschaftliche Gebäude wurden beschädigt, darunter die sogenannten Fienili mit großartiger, stolzer Arkaden-Architektur. Auf diesen verstreut gelegenen Bauten lag unser Augenmerk.

Sind die Schäden größer, als bei uns bekannt wurde?

So ist es. Und das ist eigentlich ein Skandal. Die Ereignisse spielen sich nicht auf einem entfernten Kontinent ab, sondern unweit der Alpen in einem Land, in dem viele von uns Urlaub machen. Nach den ersten Erdbeben am 20. Mai gab es kurze Berichte in unseren Medien. Dann erfuhr man nicht mehr viel. Als ich wenige Tage später nach Italien kam, waren auch dort in den überregionalen Medien die Berichte wieder abgeebbt. Obwohl die Erde 20 bis 40 Mal am Tag bebte. Die Dramatik ließ sich letztlich nur vor Ort erfahren, und das insbesondere in der Zeit unmittelbar nach dem Erdbeben.

Ist die Erde nun ruhiger geworden?

Grundsätzlich schon. Unlängst gab es allerdings ein kleines Beben im Meer vor Rimini. Die Angst, dass ein größeres Beben noch kommen wird, sitzt tief. Die Menschen leben mit einer großen Ungewissheit.

Wie gehen die Menschen damit um?

Eine Medizinerin hat mir gesagt, dass sie ihr Haus und Auto verloren hat, ihr Ehemann seine Arbeit. Und nun fürchten sie noch, auch das Kulturerbe zu verlieren. Die Orte, an denen das gesellschaftliche Leben stattfand, stehen nun halb aufgerissen in den Ortschaften herum und werden vom Herbstregen geflutet. Die Frage ist auch, woher das Geld kommen soll, die Kredite für den Wiederaufbau. Eine ganz schwierige Situation, die dazu verführt, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber die Menschen in der Emilia sind sehr umtriebig, die Region war vor dem Erdbeben wirtschaftlich bestens aufgestellt. Ich will mir nicht vorstellen, dass es so endet wie in L’Aquila.

Sie knüpfen mit Ihrem Vorhaben an die italienische Architektur in Potsdam an.

Immer wieder trifft man in der Emilia auf Bauten, die in Potsdam stehen könnten. Auch deswegen ist es uns ein dringendes Anliegen, dem drohenden Verlust an historischer Erinnerung entgegenzuwirken. Wir haben mit den Studenten horizontal und vertikal gearbeitet. Objekte wurden fotografiert und die Geodaten festgehalten. Wir haben bestimmte Bauten für eine Bauaufnahme ausgewählt, auch Bauten, die eine Analogie mit Potsdamer Gebäuden zeigen. Die werden nun von den Studierenden in Potsdam gezeichnet. Parallel dazu ist geplant, die Gebäude und die gesammelten Materialien in einer interaktiven Karte zu erfassen. Bei unseren Studierenden hat die Exkursion sehr nachhaltige und bleibende Eindrücke hinterlassen. Geschichte wird unmittelbar fassbar, aber auch die Erfahrung, dass das gewohnte Leben innerhalb einer Minute verloren sein kann, ist eine tiefe Lebenserfahrung. Nun arbeiten sie hier in Potsdam das dokumentierte Material auf.

Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Projekt?

Wir haben zwei Ziele. Zum einen wollen wir dazu beitragen, dass so viel wie möglich in der betroffenen Region dokumentiert wird. Denn zerstörte Gebäude werden momentan sehr schnell abgerissen. Man weiß in Zukunft mitunter nicht mehr, wo eindrucksvolle Architekturen standen. Wir wollen das Kulturerbe sichern, und wenn es nur fotografisch ist. Denn diese Denkmäler bilden auch einen Teil der dortigen Identität. Zum anderen wollen wir eine Diskussion um Rekonstruktion anregen.

Inwiefern?

Das haben wir bei einer Ausstellungseröffnung mit Fotos von Chiaramonte in Mailand vor zwei Wochen bereits angestoßen. Die Haltung, dass man nicht wiederaufbauen will, ist derzeit in Italien weit verbreitet. Ich halte dem entgegen, dass man zunächst einmal Abrisse verhindern muss. Wenn Teile einer Kirche zerstört sind, kann man sehr wohl den Rest noch retten. Wir hatten in Italien bereits zahlreiche Kontakte und haben nun viele neue hinzugewonnen. Wir wollen weiter dazu beitragen, die Diskussion um den Umgang mit dem beschädigten Kulturerbe in die dortige Gesellschaft hineinzutragen

Wie weit geht das mit den Abrissen?

Es wurden sogar schon mittelalterliche Türme gesprengt, weil sie einstürzen könnten. Viele Abrisse werden mit Gefährdungslagen begründet. Zurzeit scheint man aber auch taktisch vorzugehen, den Winter abwarten, der vielen beschädigten Baudenkmälern den Rest geben dürfte. Auch gibt es Firmen, die kostenlosen Abriss anbieten. Die haben es auf die historischen Backsteine abgesehen. Ich habe vor Ort deutlich gemacht, dass das, was nach dem Beben passiert, viel gravierender zum Kulturverlust beitragen kann als die Erdbeben selbst. Ich sehe das im Kontext unserer deutschen Erfahrungen mit all dem, was nach dem Krieg abgerissen wurde, diesen Verlust spüren wir heute noch. Wenn man Rekonstruktion unter solchen Vorzeichen betrachtet, ergeben sich ganz neue Sichtweisen. Die Diskussion in Italien hat das gezeigt. Auch der Verweis auf den Campanile auf dem Markusplatz in Venedig ist da immer wieder hilfreich: Wer weiß schon, dass dieser Turm um 1900 eingestürzt und umgehend wiederaufgebaut worden ist. Ich habe noch niemanden getroffen, der darüber nicht froh ist.

Kaum zu glauben, dass die Italiener nicht an der historischen Bausubstanz hängen.

Zum Teil tun sie das auch. Zumindest sind sie für eine sehr strenge Denkmalpflege bekannt. Da ist man in Italiens großartigen historischen Altstädten sehr konsequent. Den Italienern ist es für ihre Identität auch sehr wichtig, auf die Piazza ihres Ortes gehen zu können. Sehr ruppig geht man hingegen mitunter mit dem nicht denkmalgeschützten historischen Bestand im Zusammenhang mit der Gegenwartsarchitektur um. Ein Beispiel ist Mailand mit seiner sehr einzigartigen Stadtarchitektur aus der Jahrhundertwende und aus den 1930er Jahren, die angesichts des dortigen Baufiebers gefährdet ist. Vielerorts verschwinden historische Häuser und Blöcke. Was dann entsteht, sind Architekturen, die die gewachsene Stadt mit ihrer raumbildenden Kraft verleugnen und durch objekthafte Bauten ersetzen. Als „Potsdam School of Architecture“ wenden wir uns gegen diese Art von Kulturverlusten, wir setzen uns dafür ein, die Identität der Orte zu wahren und zu stärken.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Spenden zur Unterstützung des FH-Projektes an: Landeshauptkasse Potsdam Konto 711 040 2885, BLZ 300 500 00, Verwenungszweck: Kulturerbe Emilia.

Annegret Burg ist seit 1999 Professorin für Architektur- und Stadtbaugeschichte an der Fachhochschule Potsdam. Die Dozentin unterhält langjährige akademische Verbindungen zu Italien.

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