Homepage: Mit großer Sorge
Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer sprach zum Einsteintag im Nikolaisaal über das Verhältnis Europa-Nahost
Stand:
Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa – das derzeitige Jahresthema der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) klinge fast schon bedrohlich, hatte der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer zum Einsteintag der Akademie am Freitag im Nikolaisaal gesagt. Womit die Richtung seiner Analyse zu Nahost klar war. Zuvor hatte BBAW-Präsident Prof. Günter Stock erläutert, dass der Nahost-Schwerpunkt der Akademie zur Versachlichung der Debatte um den Koran beitragen soll. Dazu gehört das aufwändige neue Forschungsprojekt Corpus Coranicum, das nun in Potsdam angesiedelt ist und in eine historisch kritische Edition des Koran nebst einem umfassenden Kommentar münden soll: wissenschaftliches Neuland, so Stock.
Joschka Fischer bewegte sich weniger auf Neuland, sondern auf bekanntem Terrain. Seine messerscharfe Analyse, mit altbekannt knarziger, bisweilen heiserer Stimme nahm die politische Situation in Nahost und ihre Bedeutung für Europa bzw. die ganze Welt in den Blick. Wobei Fischer keine langen Umschweife machte, um zum Punkt zu kommen: Er fürchte, dass Europas Beziehungen zum Nahen Osten in den kommenden Jahrzehnten vom Gesichtspunkt der Sicherheit bestimmt werde. Die politischen Beziehungen könne man einerseits als bedrohlich, andererseits aber auch als Chance sehen. „Wenn Europa zusammen findet, und nur dann, wird es im 21. Jahrhundert eine Rolle spielen“, so Fischer.
Joschka Fischer spricht gerne von großen Herausforderungen und von mindestens ebenso großen Sorgen. So etwa der Kontinent Afrika: eine große Herausforderung für Europa. „Die Klugheit und der Egoismus verpflichten Europa dazu, sich dort zu engagieren“, sagte Fischer mit Blick auf die zu erwartende positive Entwicklung Afrikas. Dann jedoch die Politisierung des Islam: „Ein Anlass zu großer Sorge“. Eine Herausforderung aber auch, allenthalben. In allen europäischen Ländern sei eine starke Zuwanderung von Muslimen aus dem Nahen Osten zu verzeichnen. Der kulturelle Einfluss sei groß, die tiefen historischen Verwurzlungen noch größer.
Was den negativen Befund des UN-Umweltprogramms zur Gegenwart im Nahen Osten nicht schmälert. Der sei alles andere als beruhigend. Relativ junge Staaten mit relativ alten Konflikten, die im Handeln, im Wachstum und bei der Wissenschaft kaum voran kommen würden. Die großen Traditionen der Vergangenheit würden meist einer eher deprimierenden Gegenwart gegenüberstehen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit sei dabei eine der Wurzeln der Radikalisierung des politischen Islams. Fischer spricht von einer „blockierten Modernisierung“, die dem Fundamentalismus und totalitärem Terrorismus Vorschub leiste.
Nach wie vor ist die Region aber mit ihren Öl- und Gasvorkommen die „Tankstelle der Weltwirtschaft“. Hinzu kommen die Konflikte zwischen Israel und den Palästinensern, aber auch die heraufziehende Spaltung der muslimischen Welt in schiitische und sunnitische Gläubige. „Sehr gefährlich“, krächzte Fischer und wiederholte dies nach einer Kunstpause noch einmal mit schneidender Stimme. Der Irak-Krieg 2003 sei der „entscheidende Schlag“ gegen die Ordnung in der Region gewesen, die nach dem Ersten Weltkrieg als anglo-französiches Regionalmodell geschaffen worden war. „Die Konsequenz des Krieges hätte eine amerikanische Ordnung für den Nahen Osten sein müssen.“ Aber daran habe Fischer nie geglaubt. Die Folge sei nun eine Destabilisierung und eine neuen Hegemonialmacht Iran am Persischen Golf.
Und Fischers Alptraum? Einerseits, dass im Irak eine islamische Republik entstehe, andererseits, dass der Iran zur Atommacht werde. Zur Instabilität käme dann ein nuklearer Rüstungswettlauf in der Region: „Das würde die europäische Sicherheitsstruktur vollkommen ändern“, so Fischer. An die Auswirkungen eines Putsches in solch einer Gemengelage möchte er gar nicht erst denken. „Wir brauchen eine regionale Ordnung, die die dortigen Sicherheitsinteressen befriedigen kann und zugleich eine Sicherheitspartnerschaft mit Europa ermöglicht.“ Ohne ein starkes Europa, das als strategischer Akteur auftrete, sei dies aber undenkbar.
Womit Fischer am Siedepunkt seiner Analyse angelangt war: der Türkei. Er spricht von „grenzenloser Blindheit und Dummheit“, die Türkei nun zu isolieren. Denn über das Land am Bosporus könnte Europa zum politischen Akteur im Nahen Osten werden. Die Türkei sei die „zentrale Region“ für Europas Sicherheit. „Und wir sind dabei, uns von der Türkei zu entfremden.“ Dass man dem Land die Vollmitgliedschaft in der EU verwehre, werde in der Türkei als Schlag ins Gesicht empfunden. Die Absage an die Türkei sei eine Absage an die gesamte Region. „Nun treiben wir die Türkei in die Arme Russlands und Irans“, rief Fischer verständnislos. Dabei wäre eine europäische Türkei der beste Beweis dafür, dass Islam und Moderne kein Widerspruch sind.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: