Kolumne PYAnissimo: Mittelerde mit Frittata
Kürzlich hat in Potsdam ein neues Café eröffnet, das „Ricciotti“ neben dem Nikolaisaal. Der Anspruch: Mediterran soll es sein.
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Kürzlich hat in Potsdam ein neues Café eröffnet, das „Ricciotti“ neben dem Nikolaisaal. Der Anspruch: Mediterran soll es sein. Es gibt schon mal guten Kaffee und Frittata – aber bei den Öffnungszeiten kennt man in Potsdam keine Gnade. Um 20 Uhr ist am Wochenende Sense. Damit die barocke Innenstadt nicht vor lauter mediterranem Savoir-vivre zerbröselt – oder aufwacht. Unvorstellbar, dass hier jemand nach 20 Uhr mit lauter Stimme einen Aperol Spritz bestellt.
Ich war gerade in Barcelona und habe das Grauen des mediterranen Alltags erlebt. Spätes Frühstück, Ladenöffnungszeiten wie in der DDR, also mit langer Mittagspause, und abends dafür lange auf und draußen bleiben. Die haben wahrscheinlich keinen „Tatort“. In dem Klima kann man natürlich nicht richtig arbeiten, und so hat auch Barcelona Dauerbaustellen. Keinen Flughafen, der wurde schon 1918 eröffnet und ist heute so groß, dass zehn BERs hineinpassen würden. Nein, Barcelonas BER ist ein Gotteshaus. Mitten in der Stadt steht die Kathedrale Sagrada Familia, ein unvollendetes Jahrhundertbauwerk, das sich gleich über einen ganzen Straßenblock ausbreitet und das leider kein Gestaltungsrat verboten hat. An Antoni Gaudis kleckerburgähnlichem Wunderding der Architektur wird bis heute weiter gekleckert, nicht geklotzt. Man hofft, damit zum 100. Todestag Gaudis im Jahr 2028 fertig zu sein. Das ist mediterrane Planung – Durchhalten mit Visionen und Gottes Segen. Immerhin: Bis dahin wird die wimmelnde Baustelle fröhlich und einvernehmlich touristisch vermarktet, Abertausende Japaner mit Atemschutzmasken und Selfiesticks umrunden das Monster tagtäglich.
Man stelle sich das am BER vor: Touristen, die sich vor Kabelbäumen für Gruppenfotos aufstellen und im Empfangsgebäude eine Kerze spenden für die Brandschutzanlage. Wird allerdings schwierig mit einem Eröffnungszieldatum: Welcher Flughafenchef wird als Referenz genommen? Und reicht eventuell auch der 100. Geburtstag?
Aber das wird sowieso nix, wir Deutschen sind einfach zu ungeduldig und wollen immer alles und sofort. Wir kämen nie auf die Idee, etwas zu planen und zu beginnen im Vertrauen darauf, dass es in 100 Jahren fertig wird. Wir sind nicht mediterran, sondern Mittelerde, graben uns eine Höhle zum Überwintern und gucken „Tatort“. Ab und zu kommen wir hervor und essen in mediterranem Überschwang eine Frittata. Vor 20 Uhr.
Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg
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