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"Spurensicherung 1945" im Potsdam Museum: Omas Glücksbringer

Für das Projekt "Spurensicherung 1945" haben 80 Jugendliche die Geschichte ihrer Familie, Verwandten oder ihres Heimatortes im Jahr 1945 erkundet. Worauf sie dabei gestoßen sind, ist jetzt in einer Ausstellung im Potsdam Museum zu sehen.

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Potsdam - An dem Buch ist auf den ersten Blick nichts Besonderes zu entdecken. Für Familie Lorenz ist die Heilige Schrift im schlichten schwarzen Einband trotzdem ein Schatz. Ein Glücksbringer. Die Bibel gehörte zum wenigen Gepäck, das die Familie im Februar 1945 bei der Flucht aus dem schlesischen Jauer, dem heute polnischen Jawor, mitnahm. Einen Platz im letzten Flüchtlingszug bekamen die Lorenzens, am Abend erreichten sie Dresden. Aber dort wollten sie nicht bleiben und machten sich auf den weiteren Weg Richtung Westen. „Zwei Stunden später wurde Dresden bombardiert“, erzählt Jessica Köpke. Die Bibel, daran glaubt die Oma der 20-jährigen Cottbusserin bis heute fest, hat die Familie damals vor dem Tod im Flammeninferno bewahrt.

Jetzt steht das Buch in der Ausstellung „Spurensicherung 1945“, die am gestrigen Freitag im Potsdam Museum am Alten Markt eröffnet wurde. Die Schau ist das Ergebnis eines Schülerprojektes des brandenburgischen Museumsverbandes. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machten sich rund 80 Jugendliche in zehn Orten in Brandenburg so wie Jessica Köpke auf Spurensuche – in der eigenen Familie, bei Bekannten, im Heimatort, bei Zeitzeugen, die 1945 so alt waren wie die Jugendlichen heute. Die Dinge, die sie dabei fanden, die Geschichten, die sie hörten und aufzeichneten in Potsdam, Wilhelmshorst oder Eberswalde, haben die Ausstellungsmacher mit geschickter Hand arrangiert, hier und da behutsam mit Objekten aus anderen Museen ergänzt. Susanne Köstering vom Brandenburgischen Museumsverband spricht von „einer möglichen Erinnerungslandschaft des Jahres 1945“.

"Was habt ihr erlebt?"

Das kann natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, berührt mit den Schicksalen und Gefühlen, von denen jedes einzelne Exponat erzählt, aber mehr als manche große Schau im Geschichtsmuseum. Und das gilt nicht nur für den Besucher, sondern auch für die jungen Macher. Für Jessica Köpke war das Projekt, das für die Cottbusser Teilnehmer am dortigen Menschenrechtszentrum koordiniert wurde, der Anlass, mit entfernten Verwandten zu sprechen, die sie bis dahin nie getroffen hatte. Die Schwester ihres Urgroßvaters zum Beispiel, die bis heute ein Tagebuch über die Flucht aufbewahrt. Jessica Köpke besuchte die 90-jährige Frau in Bielefeld. „Das Tagebuch ist in altdeutscher Schrift geschrieben, also habe ich mir von ihr vorlesen lassen“, erzählt sie. Auch mit anderen Verwandten telefonierte sie für die Recherche – mit einer Hauptfrage: „Was habt ihr erlebt?“ Im Gespräch mit den Zeitzeugen ist Geschichte für sie noch einmal ganz anders lebendig geworden.

Alina Jockheck und Pepe Bellin aus Wandlitz nördlich von Berlin stießen bei ihrer Spurensuche im örtlichen Heimatmuseum auf das Holzkreuz für Reiner Krüger. Der 15-Jährige, der nach Wandlitz kam, nachdem seine Familie im Ruhrgebiet ausgebombt worden war, wurde am 21. April 1945 zum Volkssturm eingezogen. Er fiel noch am selben Tag. Er gilt als der letzte Kriegstote in Wandlitz, erzählen die beiden 16- und 17-Jährigen. So alt wie sie ist Krüger nie geworden. Vom unbeschwerten Alltag und einer glücklichen Kindheit, wie sie jeder Mensch verdient hat, ganz zu schweigen. Das Projekt hat bei den Jugendlichen den Blick für Hinterlassenschaften aus dieser Zeit geschärft. „Ich denke, dass einem diese Dinge jetzt öfter im Alltag begegnen“, sagt Alina Jockheck: „Wenn man darauf achtet, sieht man mehr.“

Spuren aus dem Jahr 1945

Aber was ist es, was diese jungen Menschen sehen, wenn sie nach Spuren aus dem Jahr 1945 suchen? Viele Exponate erzählen von Entbehrungen der Flucht, dem Chaos der letzten Kriegstage, vom Glück der Überlebenden und dem beschwerlichen Neuanfang. Sie erzählen von Leben, die in ihren Grundfesten erschüttert waren – aber weitergingen. Weniger präsent sind die Gräuel des Zweiten Weltkrieges, die Schuld, die viele Deutsche auf sich geladen haben, die Millionen Toten aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Das kann man als Zeichen der Verdrängung lesen, mit der diese Themen in Familienüberlieferungen behandelt werden – der Soziologe Harald Welzer hat dieses Phänomen vor einigen Jahren in seinem Buch „Opa war kein Nazi“ beschrieben.

Ganz abwesend sind Opfer des NS-Regimes aber nicht: Die beiden Potsdamer Schüler Max Lietz und Alexander Quedenau zum Beispiel haben mit Henry Schwarzbaum gesprochen. Der Mann, der mehrere Konzentrationslager und Todesmärsche überlebte, trägt bis heute die tätowierte Auschwitz-Häftlingsnummer 132624 am Arm. Im Frühjahr 1945 wurde er von den Amerikanern befreit – auf einem grausamen Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen. Es ist eine der wenigen Geschichten, bei denen der Gedanke der Befreiung, wie er heute im Zusammenhang mit dem Kriegsende selbstverständlich ist, klar ausgedrückt wird. Die Ausstellungsmacher haben auch Exponate aus der Gedenkstätte Ravensbrück aufgenommen, um den Toten einen Platz zu geben.

Nachfragen und nachdenken

Bei anderen Exponaten gilt es, genau hinzusehen und hinzuhören, wie Susanne Köstering betont. Was zum Beispiel hat es mit der kleinen Hitlerbüste auf sich? Nase, Stirn und Mundpartie sind vermutlich durch kräftige Schläge dermaßen verformt, dass man den von einer Mehrheit der Deutschen zwölf Jahre lang vergötterten „Führer“ kaum wiedererkennt, wäre da nicht die stramme Scheitelfrisur. „Wie viel Hass, Trauer, vielleicht auch Reue muss da explodiert sein?“, fragt der dazugehörige Text. Das Projekt hat bei den Jugendlichen offenbar auch einen Prozess des Nachfragens und Nachdenkens angeregt. Das erreicht die Ausstellung auch beim Besucher.

„Projekt Spurensicherung 1945“, bis 4. Oktober im Potsdam Museum am Alten Markt.

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