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Was von der Besatzung übrigblieb. Nach Abzug der russischen Truppen besuchten Hannes Wittenberg (o.) und Peter Herrmann die ehemaligen Militärgelände in und um Potsdam. Sie bargen rund 2000 Gegenstände, etwa eine Kette mit einem Kreuz aus Brot (l.) und diverse Plakate. Auf dem Stadtplan sind die früheren Militärgebiete rot markiert.

© Andreas Klaer

Von Jana Haase: Poster mit „Miss UdSSR“

Vor 15 Jahren zogen die russischen Truppen aus Potsdam ab. Hannes Wittenberg ging damals auf Spurensicherung

Stand:

Und dann fielen tatsächlich Schüsse. Leuchtraketen erhellten die Straßen des russischen Militärstädtchens Nummer 7 in dieser Sommernacht vor 15 Jahren. Ganz wohl war den beiden Mauerstürmern sowieso nicht gewesen, als sie über eine Leiter vom Nachbargrundstück aus bis an die Mauerkrone des damaligen Sperrgebietes geklettert waren. Dabei hatten sie die Bedenken der besorgten Anwohner – „Die Russen schießen!“ – vorher noch großspurig in den Wind geschlagen: „Wir haben 1994!“ Jetzt standen sie da im Dunkeln, sahen diese drei Gestalten in Uniform und schon mit dem ersten Schuss sank der Mut gewaltig. „Wir haben uns versteckt“, erinnert sich Hannes Wittenberg an das Ende des Unternehmens.

Heute kann der stellvertretende Direktor des Potsdam Museums über diese Episode lachen. „Die haben wahrscheinlich nur aus Langeweile ihre Vorräte leer geschossen“, vermutet der Diplommuseologe. Denn es waren die letzten Tage vor dem Abzug der russischen Truppen aus dem Sperrgelände, das beinahe 50 Jahre lang tabu für die Potsdamer war. Genau aus diesem Grund hatte Wittenberg damals gemeinsam mit seinem Kollegen Peter Herrmann, dem Leiter der Fotoabteilung des Museums, überhaupt die Nacht-Aktion gestartet. „Wir wollten Fotos machen von Soldaten auf dem Gelände.“ Die Neugier mischte sich mit der Ahnung, dass dieser Anblick schon bald ein Fall fürs Museum sein würde: „Da geht ein halbes Jahrhundert Geschichte“, sagt Hannes Wittenberg.

Rund 340 000 Soldaten mit 200 000 Angehörigen lebten Schätzungen zufolge 1990 auf dem Gebiet der früheren DDR. Für Potsdam rechne man mit etwa 30 000 Stationierten. Seit 1991 zog die Armee schrittweise ab. In Potsdam erfolgte die offizielle Übergabe der letzten früheren Militärgelände an das Bundesvermögensamt im August 1994.

Tatsächlich ist heute kaum noch nachvollziehbar, wie präsent die sowjetischen, später die russischen, Truppen im Stadtgebiet eigentlich gewesen sind. Wittenberg hat die Flächen per Hand rot in einem Stadtplan markiert. Neben dem „KGB-Städtchen“ gehörten dazu auch die Kasernen in der Pappelallee, in der Jägerallee und in Nedlitz, das Lazarett im Voltaireweg, der KGB-Fuhrpark in der Berliner Straße, die Druckerei der Zeitung „Erben des Sieges“ in der Zeppelinstraße, der Radiosender „Wolga“ in der Menzelstraße oder ein Lebensmittellager am Glienicker Horn.

Fast alle diese Gebäude und Gelände besichtigte Wittenberg mit Herrmann nach dem Abzug. Dann jedoch nicht mehr im Geheimen, wie die anfangs beschriebene Mauer-Aktion, sondern mit ausdrücklicher Genehmigung des Bundesvermögensamtes. Für „normale“ Potsdamer nämlich war etwa das frühere Militärstädtchen rund um die Große Weinmeisterstraße noch bis April 1995 Sperrgebiet. „Wir hatten insgesamt 35 Begehungen“, sagt Wittenberg.

Es war nicht selten ein trostloser Anblick, der sich da bot: Ganze Etagen in einem Haus im „KGB-Städtchen“ waren mit Müll verfüllt, Wohnungen und öffentliche Einrichtungen wie die Fleischerei in der heutigen Persiusstraße 9, oder die Sauna in der Villa Quandt in der Großen Weinmeisterstraße völlig verwahrlost und „unbewohnbar“, sagt Wittenberg: „Da war die Decke durchgebrochen.“

Für ihn zeigt das vor allem eines: Das Leben der Sowjetsoldaten in Potsdam war eine Art „Dauerprovisorium“. Vernünftige Reparaturen schienen offenbar vergeudete Zeit: „Man war immer auf dem Sprung, wusste ja nicht, dass man 50 Jahre dableiben sollte.“

Auch vom Heimweh nach dem Osten zeugten viele Eindrücke: Wandgemälde mit Birkenwäldern und russischer Folklore zierten zum Beispiel Speisesäle in der Garde-Ulanen-Kaserne, Bärenfelle hingen in den Wohnungen. „In einem Zimmer hatte jemand schwarze Flecken an die Heizungsrohre gemalt und wir haben uns erst gewundert“, erzählt Hannes Wittenberg: „Irgendwann sind wir dann drauf gekommen: Die Rohre sollten Birken sein.“

Die Unterlagen und Fotos von den Ausflügen füllen zwei Aktenordner in Wittenbergs Büro in der Benkertstraße. Ein weiterer Schatz lagert im Magazin des Potsdam Museums auf Hermannswerder: Rund 2000 Gegenstände, die er damals mit Peter Herrmann aus den Militärgebieten in Potsdam und Umgebung geborgen hat. Es sind keine geheimen Dokumente, sondern Dinge, die dem Alltag der Soldaten und ihrer Familien entstammen: „Die oberste Schicht einer Kultur, die ein halbes Jahrhundert zu Potsdam gehörte“, sagt Wittenberg.

Nur neun Quadratmeter groß ist der Raum, in dessen Regalen die Zeugnisse einer untergegangenen Welt heute aufbewahrt werden: Das Poster einer „Miss UdSSR“ in Uniform, militärisches Gerät wie Fernglas, Uniform oder ein Helm, eine sternförmige Plakette zu Ehren des Kriegshelden Kutusow, allerhand militärischer Kitsch wie Miniflugzeuge und Leninbüsten mit viel leuchtend rotem Acryl, die auf den Schreibtischen der Offiziere standen, eine Sammlung von Propagandafotos, auf denen filmreife Kriegszenen zu sehen sind, und Plakate, auf denen in einfachen Bildern erklärt wird, wie man die Schuhe putzt, sich wäscht oder in Mannschaft antritt. „Die Soldaten kamen ja aus den verschiedensten Sowjetrepubliken“, erklärt Hannes Wittenberg. Offenbar beherrschten nicht alle die russische Sprache perfekt, folgert er.

So gibt es fast zu jedem Objekt eine Geschichte: Da ist die einfache Kreuz-Kette, die er in einer ehemaligen Gefängniszelle in der Garde-Ulanen-Kaserne in der Jägerallee gefunden hat: „Das Kreuz ist wahrscheinlich aus Brot geformt, die Kette ein aus der Uniform gezogener Faden“, sagt Wittenberg.

Der grüne Helm mit dem roten Stern saß dagegen nie auf einem Soldatenkopf: Er gehört zu einem Monument für die Sowjetischen Militärspione im Zweiten Weltkrieg, das in der Großen Weinmeisterstraße, Ecke Glumestraße stand – das Zentrum des Militärstädtchens. Die Gedenktafel dazu lagert in der Schmiedeeisensammlung des Museums. Bemerkenswert: Als Kriegsdaten werden die Jahre 1941 bis 1945 angegeben. Denn für die stalinistische Sowjetunion begann der Zweite Weltkrieg erst mit Hitlers Überfall auf Sowjetunion, erklärt Wittenberg. Auch die letzte in Potsdam gedruckte Militärzeitung ist im Magazin: „Lebewohl Deutschland, Willkommen Russland“ steht in roten Lettern über dem Titel.

Irgendwann will Hannes Wittenberg das alles sichten und veröffentlichen. Denkbar sei etwa eine Ausstellung zum 20. Jahr des Abzugs der Soldaten 2014, sagt er: „So etwas braucht Zeit.“

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