Landeshauptstadt: Schulstunde im Kinosessel
Was macht ein Politiker eigentlich den ganzen Tag? Schüler des Filmgymnasiums sahen sich „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ an und sprachen über den Film mit Regisseur Andreas Dresen
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Auch Elf- und Zwölfklässler brauchen klare Ansagen: „Ihr könnt Popkorn, Schokoriegel und Gedöns bekommen, wenn ihr versprecht, den Saal picobello zu verlassen,“ sagt die Mitarbeiterin vom Thalia-Kino. Sie wisse auch, wo die Plätze mit Handyempfang sind, scherzt sie mit den Jugendlichen. Doch kein einziges Mal wird ein Telefon während der Sondervorführung „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ stören. Dass sie so bei der Sache sind, beeindruckt selbst Thomas Nowak, Lehrer für politische Bildung.
Für die Schüler des Babelsberger Filmgymnasiums fand am gestrigen Mittwochvormittag die politischen Bildung im Kino statt. „Wir haben ja einen Kinosaal im neuen Haus“, sagt Nowak, aber noch ohne Bestuhlung. Insofern sei man froh, dass die Kooperation mit dem Thalia so gut funktioniere. „Die haben auch den kurzen Draht zu Andreas Dresen. Das brauchte nur ein paar Mails, um ihn einzuladen“. Der Regisseur des Dokumentarfilms über den Landtagsabgeordneten hätte auch gern den Hauptdarsteller, Herrn Wichmann mitgebracht, sagt Dresen später. Er sei aber gerade irgendwo in der Uckermark unterwegs: arbeiten eben.
Mit dieser Erklärung können die Schüler nach dem Film auch etwas anfangen: 90 Minuten lang haben sie den CDU-Politiker, der seit 2009 für seinen Wahlkreis Uckermark im Brandenburger Landtag sitzt und zwar in der dritten Reihe, bei seiner Arbeit zuschauen können. Für den Dokumentarfilm, die Fortsetzung von „Herr Wichmann aus der CDU“, hat Regisseur Dresen seit dem Kinostart im September viel Lob eingeheimst: eine sensible Nahaufnahme, dicht dran an den Menschen und dennoch respektvoll, ohne Big- Brother-Effekthascherei.
An Dresens Film erinnerten sich Nowak und seine Kollegen, als im Unterricht der Zusammenhang von Politik und modernen Medien diskutiert wurde. Das gängige Bild der Politiker, so die Schüler, sei der Typ im schwarzen Armani-Anzug, immer Hände schüttelnd und nichts dahinter. Der Abgeordnete positioniert sich mittels Marketing-Gags wie Seehofers Facebook-Party, weil er eben wiedergewählt werden will, so das Fazit der Schüler. Aber ob das wirklich immer so ist? Aus eigener Erfahrung weiß das kaum einer, sagt Nowak. Lediglich ein Schüler engagiere sich politisch bei den Piraten. So versuche man nun im PB-Unterricht dem Vorurteil zu begegnen, dass Politiker nichts tun. Die Schüler haben dazu Interviews und Tagebücher von Abgeordneten analysiert.
Und nun der Film über Henryk Wichmann: Der Mittdreißiger mit dem bravem Haarschnitt ist der Typ Mensch, über den sich hippe Abiturienten grundsätzlich erst einmal lustig machen. Doch mit der Zeit werden die Lacher im Saal weniger, als die verdichtete Szenenfolge einen Menschen zeigt, der – zwar nicht gehetzt dennoch stets ruhelos – unterwegs ist, von Bürger zu Bürger, Termin zu Termin. Dabei deckt er eine ungeheure Bandbreite an Themen und Problematiken ab, begegnet allen Altersgruppen und muss seinen eigenen Ansprüchen an die parlamentarische Arbeit gerecht werden. „So kleinteilig und aufreibend habe ich mir die politische Arbeit nicht vorgestellt“, gesteht Dresen nach dem Abspann. Die Begeisterung für den Film haftet ihm immer noch an. Es muss ihn selbst überrascht haben, was der Dreh mit ihm gemacht hat. Die Schüler lassen den Film erst mal wirken, bevor sie wissen wollen, woher dieser Mann seine Motivation nimmt. „Das hab ich mich damals auch gefragt, sagt Dresen.
30 Tage war das Film-Team mit Wichmann unterwegs, der mit einem kleinen Ansteckmikro versehen war: über das weite Land der Uckermark bis in den Plenarsaal des Landtags. „Ob das nicht die Wirklichkeit verzerrt abbildet“, will ein Lehrer wissen. „Eine Dokumentation ist niemals die Wirklichkeit, wir schneiden das ja zusammen. Das kann man Selektieren oder Manipulieren nennen“, sagt Dresen. Wichmann zumindest habe sich davon nicht beeindrucken lassen und oft genug das Dreh-Team vergessen. Dass manch zähe Verhandlung von der Anwesenheit der Kamera profitierte, war ein angenehmer Nebeneffekt. „Die Kamera hat Schlichtungspotenzial“, sagt Dresen.
Als Effekt des Filmvortrags erhoffen sich Lehrer und Dresen bei den Schülern ein entzerrtes Bild vom Politiker. „70 bis 80 Prozent der Abgeordneten sind Wichmanns“, sagt der Regisseur. Sie wollen nicht die Welt retten, aber sie kümmern sich, wenn der Vorortzug plötzlich nicht mehr im Dorf hält. Was denn so eine Film-Produktion koste und wie man das finanziere, interessiert einen Schüler. Das gehe nur mit Fördermitteln, antwortet Dresen. Aber so irre teuer sei der nicht gewesen, 340 000 Euro. „Ist ja nicht Cloud Atlas“, sagt Dresen und lächelt.
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