Landeshauptstadt: Silvio S. bittet Eltern um Entschuldigung
Er tat Elias und Mohamed undenkbar Furchtbares an, davon sind die Ermittler überzeugt. Nun hat er vor Gericht gesprochen. Auf die quälenden Fragen der Hinterbliebenen gab der Angeklagte keine Antworten
Stand:
Für Theodor Horstkötter war es eine Formalie. Aber auch ein letzter Versuch. Wie es der Vorsitzende Richter der ersten Schwurgerichtskammer am Landgericht Potsdam schon zuvor an fast jedem anderen der zehn Verhandlungstage gemacht hat, an Silvio S. appelliert hat, sich endlich zu äußern, die ihm zur Last gelegten Morde an dem sechsjährigen Elias aus dem Potsdamer Stadtteil Schlaatz und den Flüchtlingsjungen Mohamed aus Berlin selbst aufzuklären. Doch der 33-jährige S. schwieg stets. An diesem Dienstag wandte sich Horstkötter erneut an S. Um kurz vor 11.30 Uhr waren alle Beweise präsentiert und besprochen, die Plädoyers gehalten. „Das letzte Wort liegt bei Ihnen“, sagte der Richter zu S. Nur er könne noch Gesichtspunkte schildern, die im Prozess bisher keine Rolle spielten.
Wie so oft an den vorigen zehn Verhandlungstagen fasste sich der Ex-Wachmann, ergrautes Haar, abgemagert, an die Nase, rückte sich die schmale Brille zurecht. Doch diesmal hatte er einen abgegriffenen Zettel vor sich liegen. Sein Verteidiger Mathias Noll sagte noch, seinem von allen Zeugen und Gutachtern als kontaktscheu, schüchtern und zurückhaltend beschriebenen Mandanten falle dieser Schritt sehr schwer. Dann sprach Silvio S., womit niemand gerechnet hatte, doch noch, leise, langsam, stockend: „Ich möchte mich eigentlich nur entschuldigen bei all denen, denen ich mit meinen Taten Leid zugefügt habe, bei den Familien und Freunden von Elias und Mohamed. Ich bereue, was ich getan habe.“
Zweieinhalb Minuten lang liest S. von dem Zettel ab. „Es gibt kein Wort auf der Welt, das beschreiben könnte, wie leid es mir tut. Wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich es tun. Ich selbst aber kann mir das nicht verzeihen. Ich werde in der Haft alle Behandlungen annehmen, die angeboten werden, damit so etwas auf keinen Fall noch einmal passieren kann. Egal wie das Urteil auch ausfällt: Die Verantwortung für die schrecklichen Taten und den Tod von Mohamed und Elias wird immer bleiben, genauso die Gewissheit, dass ich das nicht wieder gutmachen kann.“
Doch kein Wort zu den Taten selbst, dazu, wie die Kinder sterben mussten. Dabei war genau das die quälende Frage für die Angehörigen, vor allem für die Mutter von Elias. Für S. wäre das an deutschen Gerichten übliche letzte Wort des Angeklagten vor dem Urteilsspruch die allerletzte Gelegenheit für die Antwort gewesen.
Zunächst hatte S. nach seiner Festnahme am 29. Oktober noch den Mord an Mohamed zugegeben, ebenso die Entführung am 1. Oktober vom Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) und den schweren sexuellen Missbrauch in seiner Wohnung. Zudem hatte der Mann aus dem Dorf Kaltenborn (Teltow-Fläming) eingeräumt, auch für den Tod des am 8. Juli 2015 in Potsdam spurlos verschwunden Elias verantwortlich zu sein. Er hatte die Ermittler auch zu seinem Schrebergarten gelotst, wo der verscharrte Leichnam des Jungen gefunden wurde. Doch seitdem: auf Anraten seiner Verteidiger kein Wort mehr. Wie Elias genau sterben musste, konnte die Schwurgerichtskammer deshalb nur annähernd ergründen.
Darauf ging auch der Verteidiger des Angeklagten, der Potsdamer Anwalt Matthias Noll, in seinem Plädoyer ein. Schweigen sei für Angeklagte ein elementares Verfahrensrecht, daraus dürften keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden, sagte Noll. Vielmehr sei sein Mandant vor seiner Festnahme auch bereit gewesen, sich zu stellen, habe sich dem Strafverfahren also nicht entzogen. Die Frage sei nur: Was steht überhaupt fest?
Und das trifft tatsächlich im Fall Elias besonders zu. Es gebe eben Zweifel, wie der Junge genau erstickt sei, sagte der zweite Verteidiger Uwe Springborn – ob durch einen Knebel, durch Erwürgen oder durch Klebeband über Mund und Nase. Auch der von dem renommierten Berliner Gerichtsmediziner Michael Tsokos diagnostizierte schwere Missbrauch von Elias kurz vor oder nach seinem Tod sei spekulativ. Ebenso ging Springborn auf bestimmte grausige Einzelheiten der Ergebnisse der Obduktion des Leichnams von Elias ein. Auf Details wird an dieser Stelle aus Pietätsgründen verzichtet – nur so viel: Aus Sicht der Verteidigung könnten bestimmte Spuren am und im Körper, die von der Staatsanwaltschaft als Beweis für den Missbrauch herangezogen werden, auch einen andere Ursache haben.
Dem widersprach Staatsanwalt Petersen in seiner Replik. So müsse man für die Gesamtlage die belastenden Indizien würdigen. Und die deuteten eindeutig darauf hin, dass Elias ermordet wurde, um die Entführung und den Missbrauch zu decken. Unter anderem verwies er auf den neben dem Leichnam von Elias vergrabenen Pullover des Angeklagten, an dem sich noch Spermaspuren fanden.
Dagegen sagte Verteidiger Noll, angesichts der Faktenlage komme im Fall des getöteten Elias auch eine Verurteilung wegen Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge oder fahrlässiger Tötung infrage. Dagegen sei die Tötung von Mohamed zur Verdeckung einer Straftat erfolgt, räumte Noll ein. Ein Mordmerkmal wäre daher erfüllt.
Mit dem Plädoyer wurde das eigentliche Ziel der Verteidigung deutlich: Sie will eine Verurteilung von Silvio S. wegen zweifachen Mordes vermeiden, ebenso die von der Staatsanwaltschaft beantragte anschließende Sicherungsverwahrung für besonders gefährliche Gewalttäter sowie Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Es wäre die Höchststrafe. S. hätte faktisch kaum Aussicht darauf, jemals wieder einen Fuß in die Freiheit zu setzen. Folgt das Gericht der Staatsanwaltschaft, würde eine Freilassung von S. massiv erschwert. Hintergrund: Auch eine lebenslange Haftstrafe für Mord kann in bestimmten Fällen, etwa bei positiver Sozialprognose, nach 15 Jahren enden. Bei besonderer Schwere der Schuld könnten es weit mehr als 20 Jahre werden. Hinzu käme im Anschluss die Sicherungsverwahrung.
Verteidiger Noll kann keine besondere Schwere der Schuld erkennen. Auch eine Sicherungsverwahrung könne nur bei einer intensiven Neigung zu Rechtsbrüchen verfügt werden. Doch selbst der vom Gericht bestellte und durchaus renommierte Berliner Gerichtspsychologe Matthias Lammel habe nach Gesprächen mit seinem Mandaten keinen Hang zu Straftaten bejahen können.
Ankläger Petersen hielt dagegen, S. habe mit dem Psychiater nicht zu den Vorwürfen sprechen können, sondern nur über dessen Leben. Daher habe Lammel keine genaueren Angaben machen können. Der Gutachter selbst hatte nur die Schuldfähigkeit des Angeklagten bestätigt, aber von einer „unzureichenden empirischer Basis“ gesprochen. Daher könne er einen Hang zu Straftaten nicht beurteilen.
Dagegen hatte Petersen in seinem Plädoyer erklärt, S. wäre er ein übler Serientäter geworden, wenn ihn niemand gestoppt hätte. Wie berichtet lässt der Staatsanwalt ein Bewegungsprofil von S. erstellen und bundesweit mit Fällen vermisster Kinder abgleichen. Grund sind auch unklare Spuren in seiner Wohnung, die nicht zuzuordnen sind, Kinderkleidung und zahlreiche gefundene Fesselutensilien und Sado-Maso-Material. Die Frage steht im Raum, ob es doch noch weitere Opfer geben könnte.
Selbst der Vorsitzende Richter Horstkötter hatte bei der Befragung des Gerichtspsychologen bereits erkennen lassen, dass auch er die Höchststrafe nicht ausschließt. S. habe die Kinder entführt, um sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen, die Taten seien vorbereitet gewesen.
Der Befund des Gutachters lautete: Zwar sei S. nicht pädophil. Aber S., schon als Kind ausgegrenzt, sei ein Außenseiter, ein Mann, der nie eine Freundin, nie Sex hatte, der sich nur von Kindern verstanden fühlte. Er habe sich nicht ohne Grund an Elias und Mohamed vergangen, habe sich Kinder als Opfer ausgewählt, weil sie körperlich besser beherrschbar seien.
Darauf gingen am Dienstag auch die Vertreter der Nebenklage für die Angehörigen von Elias und Mohamed in ihren Plädoyers ein. „Für meine Mandantin sind Sie eine Bestie, für die Öffentlichkeit sind Sie der Mörder mit Gummibärchen und Chloroform, für mich alles Schlimme und Verdorbene dieser Welt“, sagte der Anwalt der Mutter von Mohamed, Khubaib-Ali Mohammed. Sein Kollege Andreas Schulz machte auf die Verantwortung von Internetverkaufsplattformen wie Ebay aufmerksam – bei denen S. Fesselgeschirr, Masken, eine Teddykamera und lebensechte Kinderpuppen „für seine sexuelle Perversion“ erworben habe. Speziell Ebay müsse angesichts hunderte anderer potenziell rückfallgefährdeter Sexualstraftäter in Deutschland stärker präventiv aktiv werden, forderte der Anwalt.
Franziska Neumann, die für die Mutter von Elias die Nebenklage vertritt, schloss sich lediglich den Ausführungen des Staatsanwalts vom Vortag an. Die Mutter habe sich bis zuletzt Aufschluss über die letzten Stunden ihres Kindes erhofft, das „zum Spielen hinausging und nie zurückkam“. Und Neumann stellte fest, dass sich S. trotz des Leids der beiden betroffene Familien nicht geäußert habe, obwohl die Antworten, gerade zu Elias, ihrer Mandantin helfen könnten, „mit dem Schmerz über den Verlust ihres einzigen Kindes und die damit einhergehende Verzweiflung umzugehen und die innere Leere zu überwinden“. Und sie bat: „Bitte tun Sie das!“
Eineinhalb Stunden später folgten die ersten und letzten Worte des Angeklagten in dem Verfahren. Antworten für die Eltern von Elias und Mohamed gab er keine.
Nebenklage-Anwalt Schulz sagte den PNN danach: Die Mutter von Mohamed könne diese Entschuldigung – selbst wenn sie aufrichtig wäre – nicht annehmen. „Wir haben es hier nicht mit den Folgen eines Verkehrsunfalls zu tun, sondern mit einem der schwersten Verbrechen, begangen an einem unschuldigen Kind, wo kein Raum für die Annahme einer solchen Erklärung bleibt.“
Für nächste Woche Dienstag wird das Urteil erwartet.
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